Das Leben von Theodor Aue

Wer war Theodor Aue, der Gründer der Aue-Stiftung? Der Vorstandsvorsitzende des Forschungsausschusses der Aue-Stiftung, Dr. Robert Schweitzer, hat seine Lebensgeschichte zusammengefasst.

Theodor Wilhelm Aue wurde am 28. März 1916 in Kokand geboren. Die Stadt liegt im heutigen Usbe­kistan; damals gehörte sie zu Russisch-Turkestan. Theodor Aues zweiter Vorname erinnert an seinen Großvater, der aus Schlesien nach Moskau auswanderte und dort als Textilfabrikant erfolgreich war. Eines seiner 10 Kinder, Max Aue, ging 1905 in den „Russischen Orient“ als Vertreter der Firma Škoda für Baumwollherstellungsmaschinen und handelte selbst mit Elektrozubehör und Treibriemen für diese. 1915 heiratete er die Moskauer Deutsche Margarethe von Rascha, deren Vorfahren Deutsch­balten waren. Die junge Familie lavierte sich erfolgreich durch die Revolutionswirren und konnte nach dem Dorpater Frieden 1920 nach Estland ausreisen, wo Max Aue geboren war. Er entschloss sich 1925, nach Finnland umzusiedeln, weil sich die Sowjetunion konsolidiert hatte und eine Rückkehr nach Russland ausgeschlossen war. Er gründete eine kleine Import/Export-Firma.

Theodor Aue und sein jüngerer Bruder Alexander besuchten die Deutsche Schule in Helsinki, die zeit­weise Angehörige von 12 Nationen zur Hochschulreife führte. Die lebendige Begegnung mit der deut­schen Kultur auf einer Exkursion nach Deutschland prägte ihn nachhaltig. Zugleich lernte er die fin­nische Sprache so gut, dass er ohne weitere Sprachprüfungen in die Finnische Handelshochschule auf­ge­nom­men wurde; er wollte von Anfang an Kaufmann werden. Aber auch das Russische pflegte er wei­ter – schon durch den Kontakt mit den Familien der vier im Land verbliebenen Geschwistern seines Vaters. Ihre schwere Verfolgung als Deutsche durch Stalin war einer der Faktoren, dass er den Natio­nal­sozialismus zunächst nur als Gegner des Kommunismus ansah und daher seinen verbrecherischen Charakter erst zögernd erkannte. Dies hat er sich in seinen Erinnerungen später vorgeworfen.

Der Zweite Weltkrieg unterbrach seinen beruflichen Aufstieg, obwohl er sogar ein Volkswirtschafts­studium in Leipzig begann. Nach dem Angriff der Sowjetunion auf Finnland war er im nachfolgenden „Winterkrieg“ im Bevölkerungsschutz eingesetzt, im Fortsetzungskrieg 1941-1944, in dem Finnland gemeinsam mit Deutschland die Sowjetunion angriff, war er Verbindungsoffizier zu den deutschen Truppen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete Theodor Aue in Ägypten, bevor er 1949 die Handels­kor­res­pon­dentin Ulla Forsblom heiratete, in die väterliche Firma einstieg und diese 1955 übernahm. Mit dem Renommé einer gut eingeführten Firma im Rücken weitete er geschickt seinen Anteil am Han­dels­volumen mit Gütern aus, die in Finnland bei seinem endgültigen Übergang zur Industrie­ge­sell­schaft zunehmend nachgefragt wurden. Allein von 1970-1975 verdoppelte sich die Bilanzsummer der Oy Max Aue Ab, die mit 60 Geschäftspartnern in Finnland und 40 im Ausland zusammenarbeitete. Durch einen leichten Schlaganfall seit 1967 etwas eingeschränkt verkauft er 1975 seine Firma, blieb aber Teilhaber der von ihm mitgegründeten Lebensmittelimportfirma Oy Seege Ab.

Theodor Aue war immer dem deutschen Kulturleben in Helsinki verbunden, dessen Rückgrat die Drei­heit von Deutscher Schule, deutscher Evangelisch-lutherischer Gemeinde und Deutscher Bibliothek war; in allen diesen Institutionen übte er – wie schon sein Vater ‑ Ehrenämter aus. Er war führend für die wirtschaftlichen Belange der Kirchengemeinde verantwortlich, arbeitete beim 100-jährigen Jubiläum der Schule an der Schülermatrikel mit und engagierte sich im Bibliotheksverein.

Mit Energie, Geschick und Großzügigkeit gelang es Theodor Aue auch, die Verbindung zu den durch Verfolgung dezimierten Verwandten in der Sowjetunion wieder aufzunehmen und unterstützend zu wirken. Schon vor der Perestroika besuchte er über zehn Mal Moskau. 1974 konnten sein Bruder und er ihren Geburtsort Kokand besuchen und sich über das herzliche Interesse freuen, das sich sogar in einem Zeitungsinterview niederschlug. Diese ständige Begegnung mit der Realität der Sowjetunion und den Menschen im Lande führte dazu, dass er nicht nur keinerlei nationale Antipathie gegen Russen hegte, sondern auch eine aufgeklärte und differenzierte Haltung gegenüber dem sowjetischen Staat, seinen Problemen und seine Sicherheitsinteressen entwickelte.

Auch die Geschichte seiner Familie und ihre Urprünge in Deutschland versuchte Theodor Aue zu er­hel­len, denn schon als Schüler hatten fähige Geschichtslehrer sein historisches Interesse geweckt. Dabei ging es ihm aber nicht nur um Genealogie. Vielmehr faszinierte ihn, dass so viele deutsche (aber auch holländische oder britische: seine Großmutter war eine Moskauer Britin) Auswanderer den kulturellen und wirtschaftlichen Austausch zwischen dem zentralen Europa und dem euro­päischen Nordosten belebt hatten (zu dem sich ja auch das Zarenreich zählte). Sie waren einerseits erfolgreiche „self-made men“ in ihren Zielländern, bewahrten andererseits ihre nationale Identität und waren doch fähig, sich in diese Gesellschaften zu integrieren und integrierend zu wirken.

Keineswegs sah Theodor Aue darin ein deutsches „Kulturträgertum“ , sondern vielmehr ein frühes Wirken für europäische Integration , an das erinnert werden müsse in der Hoffnung, es werde nach den Irrwegen des 20. Jahrhunderts wieder daran mitwirken, die Teilung Europas zu überwinden und es weiter zu integrieren. Schon 1981 schrieb er, die Schuldigen am Zweiten Weltkrieg hätten das Mit­tel­europa, dessen Kultur er so sehr schätzte, zerstört, aber die Tage der Spaltung seien gezählt, weil die Sowjetunion auf die aus Polen kommende Herausforderung keine geistige Antwort finden werde.

Anders als viele Angehörige der sogenannten „Erlebnisgeneration“ erkannte er, dass die Geschichts­forschung Zusammenhänge freigelegt hatte, die ihm seinerzeit nicht sichtbar waren. Während Kräfte in Deutschland „Finnlandisierung“ als innenpolitischen Kampfbegriff nutzten – sehr zum Schaden für Finnlands Bemühungen um die Konsolidierung seiner Neutralität, verteidigte er in zahlreichen Brie­fen und Rundschreiben an seine deutschen Freunde sowohl die Paasikivi-Kekkonen-Linie als auch Willy Brandts Neue Ostpolitik: Die beiden Staaten, die die Sowjetunion angegriffen hatten, würden durch ihre Berücksichtigung sowjetischer Sicherheitsinteressen die These von einer westlichen Bedrohung zur Chimäre machen, die den Ostblock noch zusammenhalte. In der KSZE sah er die ersten Erfolge dieser Politik. Allerdings hat Theodor Aue seine Überzeugungen eher im Gespräch, in Briefen und Aufzeichnungen als in Veröffentlichungen vertreten. Er diskutierte allerdings auf internationalen Tagungen und suchte das Gespräch mit „Querdenkern“. Um die Wirkung seiner Denkansätze zu verstetigen, gründete er 1985 mit seiner Frau Ulla die „Stiftung zur Förderung deutscher Kultur“, die 1988 in der Finlandia-Halle der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und ihre Tätigkeit aufnahm.

Ihre erste Veröffentlichung betreute er selbst: der Wiederabdruck Schweizer Zeitungsberichte über den Winterkrieg. Damit verdeutlichte er, dass die Stiftung den gesamten deutsch­spra­chi­gen Raum im Blick hat. Zugleich gewann er aber den Lübecker Bibliothekar, Finn­land- und Osteuropahistoriker Ro­bert Schweitzer für die ersten Forschungen. Sie behandelten Lü­becker Auswanderer in Finnland und die Geschichte der Wiborger Deutschen. Zur Geschäftsführerin bestellte Theodor Aue die in Han­ko lebende Redakteurin und Deutschlehrerin Waltraud Bastman-Bühner. Sie schuf eine moderne Arbeits­einrichtung in dem Haus, in dem Margarethe Aue und zuletzt Theodor und Ulla Aue eine Wohnung hatten. Auch riefen sie und Schweitzer über Kontakte mit anderen Stiftungen und Forschungsinstitutionen im Ostseeraum Veranstaltungsreihen ins Leben: die „Snellman-Seminare“ sowie die sogenannten „Tallinner Symposien“, die regelmäßig Ostseeraum-Historiker versammelten.

Theodor Aue konnte das Wachsen und Gedeihen seines Werks nicht mehr erleben; er  starb plötzlich am 23.6.1991 an seinem Herzleiden in Detmold, auf einer Reise in die von ihm so geliebten deutschen Mittelgebirge.

Robert Schweitzer