Geographie und Klassizität – Thiemes ‘Finnland’ im Kontext der Literatur der Goethezeit / Ritchie Robertson
14.01.2020Als ich in diesem Frühjahr die an alle britischen Germanisten geschickte Bitte las, August Thiemes Gedicht Finnland ins Englische zu übersetzen, war ich zugleich fasziniert und verdutzt. Obwohl ich mich rühmen darf, in der deutschen Literatur ziemlich belesen zu sein, war mir der Name Thieme völlig unbekannt. Die normalerweise maßgeblichen Informationsquellen ließen mich im Stich.
Zu meiner Verwunderung fand ich selbst in Walther Killys fünfzehnbändigem Literaturlexikon keinen Eintrag über Thieme. Ich änderte meine Strategie und nahm vom Regal hinab das dickleibige Buch A History of Finland’s Literature, eine Geschichte der Literatur Finnlands. Der klug gewählte Titel deutet an, dass hier keine bloße Geschichte der finnischen Literatur vorliegt, sondern eine Geschichte der auf finnischem Boden geschriebenen Literatur, egal in welcher Sprache. In einem Land, dessen Nationaldichter Runeberg nicht auf Finnisch, sondern auf Schwedisch dichtete, kann man wohl nicht anders vorgehen. Man sollte meinen, dass ein in deutscher Sprache auf finnischem Boden verfasstes Gedicht, das sich von Anfang bis Ende in geradezu enzyklopädischer Fülle mit der physischen und menschlichen Geographie Finnlands beschäftigt, einen Platz in diesem Kompendium verdient hätte. Weit gefehlt: im Register steht der Name Thieme nicht. Was ich über Thieme weiß, verdanke ich ausschließlich den gewissenhaften und ertragreichen Forschungsbeiträgen, die im vorliegenden Band von Robert Schweitzer und seinen Mitarbeitern gesammelt sind.
Besondere Betonung verdient der Umstand, dass Thieme dem Umkreis der Weimarer Klassik, wenn auch am Rande, angehörte. Aus dem Beitrag von Johannes Roeßler geht hervor, dass Thieme aus Thüringen stammte und um die Jahrhundertwende in Halle und Jena studiert hatte. Die Universität Jena unterhielt enge Beziehungen zum Herzogtum Weimar. Schiller hatte einige Jahre vor der Studienzeit Thiemes als Professor der Geschichte dort gewirkt.Im Jahre 1799 war Johann Gottlieb Fichte auf Grund seines angeblichen Atheismus aus seiner Jenaer Professur entlassen worden. Laut einer Familienüberlieferung bekam Thieme den Rat, nach Finnland zu fahren, von Johann Gottfried Herder, den der Herzog 1776 auf Anraten Goethes als Generalsuperintendent nach Weimar geholt hatte. Nicht zu vergessen ist, dass Herder 1796 in Schillers Horen unter dem Titel ‘Iduna, oder der Apfel der Verjüngung’ einen Aufsatz veröffentlicht hatte, in dem er sich vom Weimarer Klassikprogramm distanzierte und eine Wiederbelebung der nordischen Mythologie forderte. In diesem Aufsatz feiert Herder die dichterische Kraft der Mythologie überhaupt und insbesondere der nordischen Mythenwelt. In den Dichtungen der Edda sieht er eine Ursprungsmythologie, die der deutschen Kultur abgeht und deren Aneignung die deutsche Literatur verjüngen könnte. Es ist nicht ausgeschlossen, dass dieser Aufsatz dazu beigetragen hat, Thiemes Interesse für die Literatur des Nordens zu erwecken.
Bleibt die Frage: Was ist das für ein Gedicht? Auf jeden Fall etwas Ungewöhnliches, Originelles, ja sogar Einzigartiges. Um ganz knapp Thiemes Leistung zu charakterisieren, sehe ich mich veranlasst, momentan aus dem zeitlichen Rahmen hinauszuspringen und einen Begriff anzuwenden, den Alfred Döblin in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts geprägt hat: ‘Tatsachenphantasie’. Einerseits ist Thiemes Finnland eine reichhaltige Quelle geographischer Kenntnisse mit einer Fülle von minuziös aufgelisteten Daten über die Flora und Fauna Finnlands sowie die Landschaft und deren Ertrag und last not least die Einwohner Finnlands und deren Sitten und Bräuche. Wir erfahren nicht nur, dass der finnische Boden Beeren hervorbringt, sondern auch was für welche:
Zwischen isländischem Moos vorschielt rothstrotzend die Erdbeer,
Preißel- und Schell- und Steinbeer, schwärzlich die Beere der Haide, […]
Diese Verse haben mir als Übersetzer nicht wenig Kopfzerbrechen verursacht. – Einerseits also die von Details fast überbordende Naturbeschreibung, andererseits jedoch eine Begeisterung, die einen Katalog von Naturerscheinungen zu einem herzerwärmenden Lob dieser damals dem übrigen Europa wenig bekannten Gegend erhebt.
Hinzu kommt die dialogische, man möchte fast sagen dialektische Struktur des Gedichts. Es ist nämlich angelegt als Dialog zwischen zwei Stimmen. Die erste Stimme beklagt sich unaufhörlich über die öde Landschaft, das von ständigen Stürmen heimgesuchte Klima, die wilden Tiere und die fast noch wilderen Menschen, die in ihren rauchgeschwärzten Hütten hausen ‚zwischen Gefieder und Schweinen und allerlei blättrigem Kuhmist‘. Dabei ist zu bedenken, dass man im 18. Jahrhundert meist keinen Unterschied anerkannte zwischen den Finnen und den Lappen (oder, wie man heute sagt, den Sami), sondern beide in einen Topf warf als ein am nördlichen Rand Europas angesiedeltes Volk mongolischen Ursprungs. So heißt es bei dem großen französischen Naturforscher Buffon, die Lappen seien ‘une race d’hommes de petite stature, d’une figure bizarre, dont la physionomie est aussi sauvage que les mœurs’ (Buffon, De l’homme, S. 223). Kant meint, dass ‘die Lappen, welche, mit den Finnen aus einerlei Stamme, nämlich dem ungrischen entsprungen’ (Werke VI, 20), sich seit ihrer Auswanderung in die Eiszone den klimatischen Verhältnissen angepasst haben, indem sie kleiner von Statur geworden sind, um den Blutumlauf zu beschleunigen und den Körper warm zu halten. Gemeinhin wurden diese Völker der niedrigsten Stufe der europäischen Kultur zugerechnet. In diesem Geist ruft der Finnland-Kritiker im Gedicht aus: ‘Sieh im hyperboreischen Kleinwuchs ein krüpplichtes Menschthier‘.
Erfreulicherweise wird jedoch der schonungslosen Kritik, die der griesgrämige Sprecher an Finnland übt, von seinem Gesprächspartner aufs heftigste widersprochen. Außerdem unterstreicht Thieme den Abstand zwischen ihren Ansichten, indem er jedem Sprecher ein anderes Versmaß zuweist. Der Kritiker beschreibt die Mängel Finnlands in elegischen Distichen, während sein Gegner in einer ununterbrochenen Abfolge von Hexametern antwortet. Um Thiemes Finnland in der deutschen Literaturgeschichte zu verorten, werde ich zunächst bei den Versmaßen und deren Implikationen verweilen, und anschließend komme ich dann auf die Gattungszugehörigkeit und somit auch auf Inhalt, Wortwahl und Ton zu sprechen. Man könnte allerdings auch fragen, welcher Epoche Thiemes Gedicht insgesamt zuzuweisen ist – also Romantik oder Spätaufklärung. Ich sage absichtlich ‘insgesamt’, weil man sich in der Literaturgeschichte wie auch anderswo vor allzu festen Grenzziehungen zu hüten hat. Im 18. Jahrhundert stritten Naturforscher darüber, ob verschiedene Tiergattungen fest voneinander abzugrenzen seien. Buffon und Herder waren z.B. der Überzeugung, dass man dabei nur von fließenden Grenzen sprechen könne. In der Literaturgeschichte empfiehlt es sich ebenfalls, weniger auf Reinheit denn auf Hybridität zu achten. Statt mich auf die mehr oder weniger baufälligen oder bestenfalls behelfsmäßigen Konstruktionen der Literaturgeschichte einzulassen, werde ich mich im Folgenden auf das Gedicht selbst konzentrieren.
Zunächst also zum Versmaß. In der Antike und folglich auch in der deutschen Klassik galt der Hexameter als das ranghöchste Versmaß, hatten doch Homer und dessen Nachfolger Vergil dieses Metrum für ihre großen epischen Dichtungen verwendet. Als Klopstock um die Mitte des 18. Jahrhunderts daran ging, ein episches Gedicht zu schaffen, welches das Niveau der klassischen Epen erreichen und ihnen zugleich dadurch überlegen sein sollte, dass es die christliche Wahrheit aus protestantischer Sicht verkündete, wählte er den Hexameter. Die Würde dieses Versmaßes entsprach der Erhabenheit seines Gegenstands. In ähnlicher Weise soll Thiemes Hexameter seinem Lob Finnlands Würde verleihen. Es ist bemerkt worden, u.a. von Hans Peter Neureuter im vorliegenden Band, dass sich Thieme ab und zu recht holpriger Hexameter schuldig macht. Das ist unleugbar. Doch sollte man Thieme zugutehalten, dass die Umsetzung klassischer Versmaße in moderne germanische Sprachen, deren Versdichtung nicht auf Quantität sondern auf Betonung gebaut ist, eine recht schwierige Sache ist. Dies mag der Grund sein, warum im Englischen Hexameterdichtungen relativ selten vorkommen. Spontan fallen mir lediglich die in Hexametern verfassten Erzählgedichte von Arthur Hugh Clough aus der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein – Amours de Voyage und The Bothy of Tober-na-Vuolich – wobei, wie schon die Titel andeuten, ein unverkennbarer Einschlag von Humor und sogar von Parodie mitspielt. Wer übrigens vollkommene metrische Reinheit bei Klopstock erwartet, wird an manchen unvollkommenen, unregelmäßigen, ja sogar holprigen Versen Anstoß nehmen, z.B. im vierten Gesang des Messias:
Du wärst in Entzückung
Bei des glänzenden Stuhls Anblick, und des auf dem Throne
Überflossen! (M IV, 1027-9)
Das Metrum verlangt, dass ‘Stuhls An | blick und’ als zwei Spondäen oder Trochäen gelesen werden. Beide Lesarten sind aber unmöglich mit dem natürlichen Sprachrhythmus zu vereinbaren. Mit dem Metriker Thieme wollen wir also nicht allzu hart ins Gericht gehen.
Der Hexameter passt auch deshalb zum Lob Finnlands, weil eine Reihe von Hexametern ruhig und glatt hinfließen oder sich allmählich zu einem rhetorisch wirkkräftigen Höhepunkt erheben kann. Ein einziger Satz kann sich über fünf, sechs oder mehr Verse erstrecken, ohne Verwirrung zu stiften. Dagegen ist die Ausdrucksfähigkeit der elegischen Distichen, welche dem Finnland-Kritiker in den Mund gelegt werden, weit beschränkter. Das Distichon besteht bekanntlich aus einem Hexameter und einem Pentameter, wobei diese zueinander im Verhältnis von Frage und Antwort oder Satz und Folgerung stehen können. Da der Pentameter in zwei gleiche Hälften fällt, eignet er sich für gedrängte und einprägsame Antithesen. Man denke an ein bekanntes Beispiel bei Goethe, etwa:
Aber die Nacht hindurch hält Amor mich anders beschäftigt;
Werd‘ ich auch halb nur gelehrt, werd‘ ich doch doppelt beglückt.
Solche kunstvollen Antithesen kommen in Thiemes Gedicht selten, wenn überhaupt, vor. Die beiden Hälften des Pentameters haben eher die Funktion, die Aussage im Hexameter zu ergänzen und/oder zu veranschaulichen, z.B.
Grause Natur! ‒ kein Berg, ein Augen- und Herzenserweitrer,
Alles nur zwergig und klein, alles unreifes Gebild;
Im späten 18. Jahrhundert begegnen wir nicht nur beschreibenden oder philosophischen Hexameterdichtungen – als Beispiele für diese beiden Kategorien könnte man einerseits an Hölderlins Archipelagus, andererseits an Schillers Spaziergang denken – sondern auch Hexameteridyllen. Auf die Nähe von Thiemes Gedicht zur Idylle hat Hans Peter Neureuter bereits, wenn auch kurz, hingewiesen. Man könnte aber der Frage weiter nachgehen.
Die Gattungsbezeichnung Idylle mag auf den ersten Blick seltsam oder unangebracht vorkommen, wenn man dabei an die Schäferidyllen Theokrits oder Vergils denkt, in denen glückliche Landbewohner die Flöte blasen und Bauernmädchen umwerben. Näher besehen aber kann jede Dichtung eine Idylle genannt werden, der ein Gegensatz zwischen ländlicher Unschuld und städtischer oder höfischer Korruption zugrundeliegt. So beschwört Goethes Tasso z.B. die ‚goldene Zeit‘, um den Kontrast mit der ihn umgebenden Atmosphäre von Intrige und Heuchelei zu betonen; seine Reden über die ‚goldene Zeit‘, wo ‚erlaubt ist, was gefällt‘, unterstreichen das Künstliche, das am Hof von Ferrara vorherrscht. In Thiemes Gedicht gibt der Finnland-Begeisterte zu, dass die Bevölkerung ein hartes und ärmliches Leben führt, zugleich jedoch feiert er ihre angeborene Sittlichkeit, die von dem verderblichen Einfluss fremder, vermeintlich zivilisierterer Völker noch keinen Schaden erlitten hat:
Heil dir du glückliches Volk! noch trägst du im rußigen Kleide
Tief in der bäurischen Brust die reinen Sitten der Unschuld
Wie frischfallender Waldschnee. Keine durchziehenden Völker
Senkten ihr Gift dir ins Herz. Noch schmücket euch heilige Einfalt.
Unverkennbar ist an solchen Stellen der Einfluss Rousseaus, der insbesondere mit dem Diskurs über die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen aus dem Jahr 1755 das Denken der Spätaufklärung nachhaltig geprägt hat. Mit jedem Schritt, der den Menschen von einer einfachen Lebensweise in vorgeschichtlichen Zeiten weg und der heutigen Zivilisation näher bringt, geht er – so Rousseaus These – nicht der Vervollkommnung entgegen, wie Turgot und andere Fortschrittsgläubige meinten, sondern dem Verderbnis, ja dem Untergang.
Trotz seiner grundsätzlich von Rousseau inspirierten Begeisterung für die Einfachheit und Unschuld der finnischen Landbevölkerung zeigt Thieme nicht den mindesten Wunsch, diesen Idealen die Vorteile der Zivilisation aufzuopfern. Vielmehr rühmt er Finnlands Exporthandel, denn er teilt die in der Aufklärung landläufige Meinung, dass der Welthandel das geeignetste Mittel ist, verschiedene Völker und Länder miteinander zu verbinden.Schiller z.B. gab in seiner Jenaer Antrittsvorlesung 1789 folgende Lobeshymne auf den Welthandel zum Besten: ‚Zonen und Jahrszeiten hat der Mensch durcheinander gemengt und die weichlichen Gewächse des Orients zu seinem rauheren Himmel abgehärtet. Wie er Europa nach Westindien und dem Südmeere trug, hat er Asien in Europa auferstehen lassen. Ein heitrer Himmel lacht jetzt über Germaniens Wäldern, welche die starke Menschenhand zerriß und dem Sonnenstrahl auftat, und in den Wellen des Rheins spiegeln sich Asiens Reben.‘ (Werke, hg. Göpfert u. Fricke, IV, 756) Auch Finnland hat, so Thieme, seinen Anteil an diesem Prozess des Austausches von Naturerzeugnissen. Die finnischen Wälder liefern Baumstämme, die nach England exportiert werden, um Mastbäume für die englische Flotte zu machen. Entsprechend hat die von englischen Seefahrern unternommene Erforschung Amerikas die Finnen bereichert durch die Einführung von ‚Drake’s blondknollige[r] Erdfrucht‘, d.h. der Kartoffel, die bereits im späten 18. Jahrhundert der Bevölkerung Nordeuropas zum unentbehrlichen Lebensmittel wurde. Darüber hinaus ergeht sich Thieme in der Auflistung der zahlreichen Produkte der finnischen Wälder, z.B. dem Fichtenholz, aus dem der Resonanzboden des ‚Fortepianos‘ hergestellt wird, und das Birkenöl, das dazu dient, ‚Juften‘ oder Leder geschmeidig zu machen. Bei solchen Stellen kann man bei aller Dankbarkeit für diese Informationen das Gefühl haben, dass in Thiemes Tatsachenpoesie die Tatsachen nahe daran sind, die Poesie zu verdrängen, und dass man nicht so sehr ein Gedicht, geschweige denn eine Idylle, liest, sondern vielmehr ein Beispiel für die statistischen Handbücher, die die Aufklärung in großer Fülle erzeugte.
Ein solcher Eindruck wäre allerdings irreführend, denn, wie Neureuter betont, ‚Idyllen sind im 18. Jahrhundert die Form für detailrealistische Schilderungen von Landschaft und Landleben‘ (S. 143).Dies gilt in besonderem Maße für die Hexameteridyllen, wo der Dichter Raum hat, die Realien der dargestellten Welt behäbig und detailfreudig zu schildern und vor den Augen des Lesers entstehen zu lassen. Dabei ist vor allem an die seinerzeit sehr beliebte Idylle Luise von Johann Heinrich Voß zu denken. Voß, in ärmlichen Verhältnissen im ländlichen Mecklenburg aufgewachsen, studierte in Göttingen, zählte zu den im ‚Göttinger Hain‘ versammelten jungen Dichtern und Klopstock-Begeisterten, wurde Schulmeister und später Rektor der Lateinschule zu Eutin im heutigen Schleswig-Holstein, und übersiedelte nach seiner Pensionierung 1802 nach Jena, wo er mit Goethe, Schiller und anderen Vertretern der Klassik verkehrte. Seine philologisch fundierten, aber poetisch recht eigenwilligen Übersetzungen aus Homer, Vergil, und anderen Dichtern der Antike sorgten für Kontroverse und haben ihm in den Augen seiner modernen Leser zum Sprachschöpfer avancieren lassen. Die lebhafte und detailgetreue Schilderung des heimischen Landlebens in Luise haben ohne Zweifel einen gewissen Einfluss auf Goethes epische Idylle Hermann und Dorothea ausgeübt. Außerdem hat Luise Pate gestanden für das ebenfalls sehr erfolgreiche Gedicht Jucunde. Eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen (1803)von Ludwig Kosegarten (1758-1818), Rektor der Universität Greifswald, sowie für das Hexameterepos Parthenais oder die Alpenreise (1804) von Jens Baggesen. Baggesen, ein gebürtiger Däne, dichtete sowohl in seiner Muttersprache als auch auf Deutsch und erlangte einen hohen literarischen Ruf sowohl in Dänemark als auch in Deutschland, wo er sich eine Zeitlang in Weimar und Jena aufhielt und mit Schiller, dessen Schwiegersohn Reinhold sowie mit Wieland befreundet war.
Im Mittelpunkt von Vossens Luise steht die Titelheldin, Tochter eines Landpfarrers, und ihre Heirat mit einem vielversprechenden jungen Mann. Die Vorbereitungen, darunter ein Picknick im Freien, und die Zeremonie selbst werden mit geradezu überbordendem Detailreichtum geschildert. Obwohl die klassische Ästhetik das allzu Spezifische in der Dichtung ablehnte – ‘The business of the poet’, so Samuel Johnson, sei ‘to remark general properties and large appearances: he does not number the streaks of the tulip’ – kann man bei Voß von fast naturwissenschaftlicher Genauigkeit sprechen. Anlässlich der Darstellung des Picknicks erzählt er nicht nur, dass ‘Vögelein sangen’, sondern lässt sich über die verschiedenen Vogelarten und ihre individuellen Laute aus:
Fernher
rief Rohrdommel und Kibitz, nahe der Kuckuk,
Ringsum Amsel und Fink und Emmerling; drüben vom Kornfeld
Lockte die streifende Wachtel, die Ringeltaub‘ in dem Ulmbaum
Gurrt‘, und es krächzte der Rak mit himmelblauem Gefieder.
Beim Abendessen nach der Hochzeit werden vier Birnenarten serviert und einzeln aufgezählt:
Gieb Amalien dort den gesprenkelten Gravensteiner,
Welchen sie liebt; auch denk’ ich, die Bergamott’ ist nicht übel,
Und die französische Birne, die weiße sowohl wie die graue (iii. 30-32).
Im letzten der drei Gesänge findet die Eheschließung statt, und zwar nicht, wie ursprünglich geplant, im Schloss einer befreundeten Gräfin, sondern, weil man nicht länger warten will, im Pfarrhaus selbst. Diese Änderung ist zum Teil allgemein-menschlich zu verstehen – die körperliche Begierde wird freudig anerkannt – und zum Teil politisch, als bürgerliche Unabhängigkeitserklärung von aristokratischen Gängelbändern. In anderen Idyllen von Voß wird eine Kritik an den bestehenden Sozialverhältnissen unüberhörbar ausgesprochen, vor allem gegen die Leibeigenschaft, die noch zu seinen Lebzeiten in Mecklenburg und im benachbarten Dänemark bestand. Ähnliche politische Untertöne sind bei Thieme zu spüren, auch wenn dieser sich vorsichtig ausdrückt, um die Zensur nicht auf den Plan zu rufen: Thieme deutet z.B. an, dass das unleugbare Elend, das viele finnische Bauern erleben, auf die Schuld der Gutsbesitzer zurückgeht. Die Bauern seien keineswegs faul, wie der oberflächliche Beobachter glauben mag, sondern einfach unterernährt:
Wähne nicht träg die Gedrückten, wenn dort sie bei kärglichem Mahle
Fallen ermüdet im Moore des thränenlos gierigen Gutsherrn.
Auch ist zu bedenken, dass die Idylle nicht nur eine verlorene Welt der Unschuld als unwiederbringliche Kindheit des Menschengeschlechts heraufbeschwört, sondern Schiller zufolge auf eine zukünftige Utopie vorausdeutet:
‚Er [der Dichter] führe uns nicht rückwärts in unsere Kindheit, um uns mit den kostbarsten Erwerbungen des Verstandes eine Ruhe erkaufen zu lassen, die nicht länger dauern kann als der Schlaf unsrer Geisteskräfte; sondern führe uns vorwärts zu unsrer Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt. Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjekten der Kultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffiniertesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit einem Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach Arkadien zurückkann, bis nach Elysium führt.‘ (Werke, hg. Göpfert u. Fricke, V, 750)
Abschließend möchte ich auf die erweiterte Perspektive am Ende des Gedichts eingehen, wo Thieme den Gedanken der Weltverbrüderung formuliert:
Vom Nord bis zum Südpol
Sei’s in Lapponia‘s Eisflur, oder am Indus im Palmhain,
Weht gleichheiliger Odem der Menschheit. Ein Vaterland ist nur
Unser – die Welt, zwei Kronen des Daseins, Tugend und Weisheit.
Diese Stelle gemahnt stark an Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, wo es heißt: ‚Die ganze Geschichte der Völker wird uns in diesem Betracht eine Schule des Wettlaufs zur Erreichung des schönsten Kranzes der Humanität und Menschenwürde’ (Werke FA VI, 635). Herder wird noch heute manchmal missverstanden als Prophet des Nationalismus. In Wahrheit aber hat er die besonderen Eigenschaften eines jeden Volkes gewürdigt und hervorgehoben, um ihnen ihre jeweilige Stelle in der Entwicklung der Menschheit zuzuweisen. In Herders welthistorischem Schema spielen auch die Finnen eine Rolle, wenn auch deren Beitrag erst in der Zukunft zur Entfaltung kommen wird. Die Finnen und Lappen, so Herder, sind von den ‘Skandinavischen Deutschen immer höher hinauf bis an den nordischen Rand getrieben’ worden (Werke FA VI, 687). Ein friedliches durch Volkssagen und Lieder sich auszeichnendes Volk ist, so Herder, von kriegerischen Völkern nach Norden getrieben und ‘sklavisch unterjocht’ worden.‘Das Schicksal der Völker an der Ostsee macht überhaupt ein trauriges Blatt in der Geschichte der Menschheit’ (688). Herder sieht jedoch wenn auch zögernd, eine bessere Zukunft für die Jahrhunderte lang unterdrückten Völker der ostbaltischen Küstengegenden voraus:
‚Vielleicht verfließen Jahrhunderte, ehe [die Knechtschaft] von ihnen genommen wird, und man zum Ersatz der Abscheulichkeiten, mit welchen man diesen ruhigen Völkern ihr Land und ihre Freiheit raubte, sie aus Menschlichkeit zum Genuß und eignen Gebrauch einer bessern Freiheit neu bildet.‘ (689)