01.07.2018 – Bernd Hütte
Erlauben Sie mir ein persönliches Präludium…
In den 80er/90er Jahren konnte ich an den Vorurteilen einem jungen Westdeutschen gegenüber erkennen, welcher Großvater auf welcher Seite gekämpft hatte. Jungen Menschen aus den Ländern, die im Namen Deutschlands überfallen wurden, konnte ich nur mit großer Anstrengung begegnen. Das Wunder der neuen Einheit Deutschland eines sich im Umbruch befindenden Kontinent war nicht nur ein staatlicher Schritt, sondern auch ein Wunder der Überwindung von Vorurteilen gegenüber dem alten Feind.
Aber noch bemerkenswerter waren für mich die vorurteilsfreien Menschen. Es war ein Grieche, bei dem ich besonders spürte, dass die europäische Integration die Chance für eine neue, eine wirkliche Anerkennung Deutschlands bot. Beim griechischen Jugendaktivisten war seine europäische Ausrichtung offensichtlich, aber auch bei ihm wurde stets spürbar, dass Deutschland glücklich sein durfte, überhaupt mitzuspielen. Noch 1989! Welch bittere Ironie ob der Arroganz vieler Deutschen heute.
Aber es war eine Finnin, bei der ich spürte, wie das Leben hätte sein können, wenn meine Großväter nicht andere Länder überfallen hätten. Sie gab mir Kraft und Mut in die Zukunft zu schauen und setzte sich stets freundlich aber sehr bestimmt gegen Vorurteile und für Chancengleichheit ein.
Der Grieche und die Finnin haben mir 1992 den Weg zu meinem ersten europäischen Vollzeitjob in Brüssel geebnet und ausgerechnet ein Brite hat meinen Arbeitsvertrag unterschrieben. Heute arbeitet die Finnin als Beraterin in der nationalen finnischen Bildungsagentur.
Warum ich davon spreche? Die Erfahrung meiner Generation von Westdeutschen ist immer noch prägend. Mehr noch: wir Westdeutschen sind noch immer prägend für die Ostdeutschen, so wie die Westeuropäer prägend für die Ostmitteleuropäer sind. Diese nicht nur gefühlte Dominanz der Westler hat durchaus Folgen für die gesamteuropäische Zusammenarbeit.
Die Folgen der Wendezeit mögen sich langsam abschwächen, aber nicht alles wendet sich zum Guten.
Mittlerweile muss ich mit Schaudern zugeben, dass es deutsche Parlamentarier gibt, die die Nazigräuel als „Vogelschiss der Geschichte“ bezeichnen.
Es wird Zeit für den Hauptteil…
Sehr geehrte Damen und Herren und vor allem sehr verehrte Präsidentin Dr. Sinikka Salo!
Herzlichen Dank für die Einladung und die Möglichkeit, in einem erfahrenen Kreis mit Ihnen über die deutsche Europapolitik zu diskutieren.
Verehrte Frau Salo, ich bin mir nicht sicher, welche der vielen Aufgaben und Titel ich herausnehmen soll, beeindruckt haben mich aber besonders zwei: Zentralbankerin und „Patronin der Nationalbibliothek“ von Finnland. Von einer Patronin in diese beeindruckende Bibliothek eingeladen zu werden, ist mir eine große Ehre!
Mein Thema ist die deutsche Europapolitik.
Das ist zunächst die Europapolitik der Regierung eines Bundesstaates. Doch möchte ich von Anfang an den Fokus erweitern. Der von mir sehr geschätzte Rotterdamer Politikwissenschaftler Rinus van Schendelen hat in seinem Buch „Machiavelli in Brussels“ mit Recht darauf hingewiesen, dass es einen Unterschied zwischen Mitgliedstaaten und Mitgliedsländern gibt.
EU-Mitgliedsdeutschland
Dies klingt nach Wortklauberei. Dahinter steckt eine sehr unterschiedliche gesellschaftliche Realität der EU-Mitglieder. Denn es gibt unterschiedlich ausgeprägte Muster öffentlich-privater Beziehungen, in denen nicht nur staatliche oder teilstaatliche Repräsentanten agieren, sondern auch Vertreter gesellschaftlicher Gruppen unter Einschluss der Privatwirtschaft. Sehr grob gesagt kann man EU-Länder in etatistisch, korporatistisch und pluralistisch einteilen, wobei viele gesellschaftliche und wirtschaftliche Realitäten nur schwer einzuordnen sind.
Das klassische Beispiel eines etatistischen, sprich „staatsfixierten Landes“, ist Frankreich, mit einer technokratischen, ja elitären Führung, die durch eine einfache Mehrheit des Volkes legitimiert wird. Böse Zungen sprechen von einer „Meritokratie“ der Eliten. Der autoritäre Charakter der noch immer existierenden 5. Republik entstand aus einer Bürgerkriegs- und Terrorsituation mit den Kolonien. Konsensfindung, nachhaltig selbst-organisierte gesellschaftliche Gruppen oder Parlamentarismus waren und sind schwach ausgeprägt.
Auf der anderen Seite gibt es die besonders pluralistischen Demokratien in den nordischen Ländern und in BeNeLux. Das alte skandinavische Modell des Wettbewerbs zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen mit einem starken Wohlfahrtsstaat, oder das berühmte „Poldermodell“ der Niederlande der organisierten Verhandlungen zwischen privater/gesellschaftlicher und öffentlicher Hand, haben in den letzten Jahrzehnten – besonders in Schweden – im Zuge der Deregulierung Federn gelassen- und doch bestehen sie fort.
Das zutiefst europäische pluralistisch-korporative Modell ergänzt und stärkt die „Große Demokratie“ mit ihren Wahlen oder Referenden. Die korporatistische Version des Pluralismus repräsentiert ein kompliziertes Geflecht einer Demokratie, die demokratisch organisierte „checks and balances“ in allen gesellschaftlichen Bereichen vorsieht.
Die Dänen nennen dies lille demokrati, “kleine Demokratie”. Tagtäglich sind die Dänen mit demokratischen Kompromissen in der Schule, am Arbeitsplatz oder in Vereinen produktiv beschäftigt.
Gleichzeitig tendieren die starken wie kleinen Demokratien des Nordens zur nationalen Abgrenzung bei gleichzeitiger Dezentralisierung mit Orientierung zum offenen Markt.
Die Bundesrepublik Deutschland ist historisch in einer vollkommen anderen Ausgangsposition: Sie ist einerseits zu groß um sich selbst offenen Nationalismus zu erlauben, andererseits kennt sie eine im Westfälischen Frieden von 1648 begründete, auf Konkordanz ausgerichtete Gesellschaft: starker Föderalismus; starker Parlamentarismus; starke Sozialpartnerschaft in einer noch dazu klein- und mittelständisch geprägten sozialen Marktwirtschaft; ein starkes, vornehmlich mit zwei Kirchen kooperierendes Wohlfahrtsystem (ihre Verbände bilden die größten Arbeitgeber des Landes); ein die Menschen prägendes starkes Vereinswesen und eine starke öffentlich-rechtliche wie auch private Banken- und Medienlandschaft. Übrigens: Es ist großartig, dass ich heute Abend im Gespräch mit einer ganz besonderen finnischen Deutschlandkennerin bin: Anna-Maija Mertens. Sie weiß als Direktorin von Transparency Deutschland sicherlich ein Lied von der Ambivalenz des deutschen Föderalismus zu singen,, dem „Verbändestaat“ par excellence, oder der „Lobbyrepublik Deutschland“. Mit all ihren Licht- und Schattenseiten hat die Bundesrepublik eine sehr pluralistische assoziative Demokratie. Doch in Deutschland wird „Lille Demokratie“ viel zu oft mit „Vereinsmeierei“ übersetzt. Und da liegt das Imageproblem der Demokratie. Sie macht Mühe und Arbeit und wird daher von Populisten wie Technokraten oft als grausam ätzend dargestellt. Da ist es auch nicht weit, beim Parlament von einer „Schwatzbude“ zu sprechen. Die Sprache der Nazis erwähnte ich schon.
Für das Verständnis deutscher Europapolitik ist dieser Charakter eines vielfältigen EU-Mitglieds(deutsch)land – wie ich finde – sehr wichtig.
Der Vollständigkeit halber: Andere Länder kennen übrigens einen noch ausgeprägteren Korporatismus. Das klassische Beispiel ist noch immer Österreich, wo Arbeiter- und Wirtschaftskammer integraler Bestandteil des staatlichen Handels sind. Nicht unverständlich wird dies als verstaubt und überholt kritisiert. Vielleicht eine Erklärung der jüngsten Wahlen in der Alpenrepublik. Denn „closed shops“ von Interessengruppen, wie der Ökonom Mancur Olsen es nannte, können nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung negativ wirken. Sie entziehen der Gesellschaft Vertrauen.
Zwischen historischem Bewusstsein und egoistischen Interessen
Seit ihrer Gründung 1949 ist die Bundesrepublik „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“ etabliert. Sie hat sich dieses Staatsziel nicht aus reinem Großmut gegeben: Noch als ich für mein Abitur 1990 lernte, fragte das damals besonders einflussreiche Magazin Spiegel: „Wann wird Deutschland souverän?“ – Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch nie ein europafrei handelndes, souveränes Deutschland gesehen. Diese eingebettete sogar beschränkte Souveränität wird freilich verschwiegen, von vielen nicht wahrgenommen oder sogar wider besseren Wissens verneint. Bestes Beispiel, auch in Deutschland ist es, dass selten von materiell unmittelbar bei den Menschen gültigen EU-Gesetzen gesprochen wird, sondern lediglich von Verordnungen. So wird die Bindung der Bürgerinnen und Bürger durch EU-Recht auch in Deutschland leichter kaschierbar. Übrigens war dies eine technokratische PR-Aktion, um den durch Referenden in Frankreich und den Niederlanden eigentlich gestoppten Verfassungsvertrag in einer „light version“ des Lissaboner-Vertrages zu retten.
Seit Beginn der Einführung des Binnenmarktes 1992 machte sich aber – schon beim späten Kohl – ein neues Phänomen bemerkbar: die europäische Interessenvertretung. Oder wie ich es, bewusst neutral, bezeichne: Lobbyismus in der EU. Da ja Deutschlands Interessen, wie gesagt sehr vielfältig sind, gibt es auch besonders viele deutsche Verbands- und Unternehmenslobbisten, die speziell deutsche Partikularinteressen vor Europa schützen müssen. Hierbei ging es vor allem um „Frühwarnung“ vor etwas, was etwa den Status von Sparkassen, Beamten oder Kirchen beschädigen könnte. Die 90er Jahre bildeten auch den Start für die große, interessengeleitete Europaskepsis in der Bundesrepublik. Gesetzgebung wird daher bis heute über „Brüsseler Bande“ gespielt. Wenn es gut geht, wird es als deutsche Errungenschaft dargestellt, wenn es schlecht läuft, ist auch für die Bundesregierung „Brüssel schuld“. Noch vor den großen Krisen – Finanzen, Flüchtende – war die Stimmung in der deutschen Gesellschaft und Wirtschaft längst nicht mehr so positiv, wie vor dem Mauerfall und der Einführung des Binnenmarktes. Aber ausgerechnet die Krisen scheinen bei den Deutschen wieder einen Sinn für das Große und Ganze hervorgerufen zu haben.
Denn aktuell halten in Deutschland 79 Prozent der Befragten der jüngsten Eurobarometer-Umfrage die EU-Mitgliedschaft für eine gute Sache – fast 10 Prozent mehr als 2016. Dies hat aus meiner Sicht mehrere Gründe: weiterhin eine historisch geprägte proeuropäische Haltung, die Eindämmung vieler Krisen, der Brexit und befürchtete äußere autoritäre Gefahren. Aber vor allem geht es Deutschland wirtschaftlich überproportional gut. Übrigens: wie leicht eine traditionell proeuropäische Haltung gefährdet ist, zeigt aktuell Italien. Wir profitieren dabei auch von der enorm niedrigen Zinslage und dem Exportüberschuss. Nur mit Fleiß ist die deutsche Wirtschaftskraft beileibe nicht zu erklären.
Die Gefahr besteht, dass die Erfolge des europäischen Deutschlands ohne Netz und Sicherung ist: Dass die Zustimmungswerte zur EU zwar positiv sind, aber schnell ins Wanken geraten, wenn die Politik die Parlamente und die Gesellschaft nicht nachhaltiger einbindet.
Europa zwischen technokratischem Zwang und Populismus
Im Sommer 2017 bekam ich einen finnischen Anruf aus Brüssel. Ein Korrespondent von Helsinki Sanomat hörte von einer sehr kritischen Meinung meines Präsidenten Dr. Rainer Wend zu einer gewissen, mit Brüssel vernetzten „Sherpakratie“ von mächtigen Männern in den EU-Hauptstädten. Es handelt sich um einen eigentlich normalen Vorgang der Europapolitik. Sherpas sind meist Abteilungschefs in den Regierungsämtern, die die jeweiligen Staats- und Regierungschefs beraten, für Europäische Räte (vulgo EU-Gipfel) vorbereiten und sich wahrscheinlich untereinander besser kennen, als ihre eigenen Parlamente.
Der Begriff „Sherpakrazia“ kam vom früheren italienischen Europastaatssekretär Sandro Gozi, der offensichtlich selbst zu häufig von der Entscheidungsfindung seines Chefs ausgeschlossen war. Der finnische Journalist fand für den Sherpa in Helsinki dramatische Worte: „Die finnische Außenpolitik wird von einem angesehenen, unerbittlichen und auch gefürchteten Mann gesteuert – Er hat unter fünf finnischen Premierministern gedient, trotzdem gibt es über ihn nicht mal einen Wikipedia-Artikel.“ Die Rede war von Kare Halonen „der einflussreiche Sekretär im EU-Ausschuss des finnischen Staatssrats und Berater für EU-Angelegenheiten des finnischen Premierministers Juha Sipilä.“ Nachdem das ausführliche Portrait im Helsinki Sanomat erschien, folgte prompt der Wikipedia-Artikel.
Es steht für mich außer Frage, dass es Sherpas geben muss. Es braucht Fachleute, die Kompromisse auch hinter verschlossenen Türen austarieren. Die Frage ist allerdings, inwiefern die von mir oben beschriebene, ausdifferenzierte deutsche Demokratie noch in einem „Sherpa-Regime“ funktionieren kann – und natürlich nicht nur die.
Fakt ist, dass die klassische Diplomatie seit dem Lissaboner Vertrag 2019 in eine veritable Krise geraten ist – europaweit. Seitdem die Außenminister nicht mehr an den EU-Gipfeln teilnehmen, haben sich die Staats- und Regierungschefs fast überall von den Entscheidungsfindungen von Bürgerinnen und Bürgern in den Parlamenten und der assoziativen Demokratie entfernt.
Es ist in Deutschland zudem feststellbar, dass das große Land immer weniger Verbindungskanäle zu anderen EU-Mitgliedstaaten nutzt. Vorbei sind die Zeiten von Helmut Kohl, als Deutschland noch als Anwalt der kleineren Mitgliedstaaten galt. Aber selbst große Länder wie Italien bieten wenig Raum für Empathie. Angesichts der großen Probleme des Landes ein von beiden sträfliches Verhalten, mit Auswirkungen auf Hass- und hohngetriebene Kommentare in Presse und Talkshows.
Der in den USA lehrende deutsche Politologe Jan-Werner Müller spricht von einem Zusammenhang zwischen Populismus und einer technokratischen elitäreren Elite. Hiernach teilen sich Populisten und technokratische Eliten eine gemeinsame Basis: Beide bevorzugen vermeintliche Effizienz, Vereinfachung und schnelle Entscheidungswege. Sie suchen, assoziative und korporatistische Strukturen der „Lille Demokrati“ einzuschränken oder gar zu zerschlagen. Ihr gemeinsamer Feind ist der Pluralismus.
Bezogen auf Europa bedeutet dies, dass das „politische System Europäische Union“ durchaus Raum für „alternativloses Handeln“ von Staatskanzleien bietet. Die deutsche Europakoordinierung ist voll von nicht zurückgekoppelten Entscheidungen, vor allem in der EU-Gesetzgebung des Sekundärrechts, die der gemeinsame Markt benötigt. Mal entscheidet Deutschland gar nicht („German disease“) oder nicht nachvollziehbar (wie bei der einsamen Entscheidung des Bundeslandwirtschaftsministers zu „Glyphosat“).
Dies ist ganz besonders bitter, da Deutschlands Demokratie auf Kompromiss und Konkordanz angewiesen ist. Insofern sehe ich eine Parallele etwa zu Dänemark. Diejenigen Gruppen der Gesellschaft, die nicht in die Entscheidungsfindung von Sherpas oder der EU-Kommission eingebunden werden, sehen das europäische Integrationsprojekt skeptisch. Soziale und gesellschaftliche Errungenschaften aber auch Eigeninteressen sehen sie in Gefahr. In Deutschland besteht durchaus der Reflex, sich nach einer großen neutralen Schweiz zu sehnen, die zwar profitiert, aber sich abschottet und sich selbst genügt. Augen zu und nichts wird passieren.
Anders ausgedrückt: das auch durch die mediale Aufmerksamkeit gestärkte System der EU-Gipfel (getragen von Sherpas) passt besser zu einem präsidial-zentralistischen Mitgliedstaat Frankreich als zum korporatistisch-vielfältigen EU-Mitglieds(deutschland).
Deutsch-Französischer Hilfsmotor statt Tandem
Hier komme ich zur aktuellen Zukunftsdiskussion! Emmanuel Macron sei Dank: Ein proeuropäischer Wahlkampf kann erfolgreich sein. So ist der mächtige französische Staatspräsident ein proeuropäisch auftretender Akteur, der in Deutschland höchste Zustimmungswerte genießt. Ich bin ebenfalls europäisch-französisch geprägt, in einer deutschen Provinzstadt aufgewachsen. Beide Großväter waren in Kriegsgefangenschaft in Frankreich. Meine Großmutter hatte mit den lothringischen Bauern, bei denen mein Opa Fritz arbeiten musste, noch lange beste Kontakte. Ich bin unendlich dankbar für die deutsch-französische Freundschaft.
Doch die Europäische Bewegung in Deutschland und in Frankreich betrachtet die historische Freundschaft beider Länder als eine Grundvoraussetzung, oder besser Hilfsmotor für die europäische Demokratie.
Die Aufmerksamkeit, das Regierungshandeln und die Publizistik beider Länder scheint derzeit nahezu blind für die Nöte und Ansprüche der anderen Länder, nehmen wir mal Polen aus.
Die Gründe liegen in Deutschland – ich deutete es an – in der historischen Schuld. Aber auch die Niederlande und Belgien haben Deutschland überrannt. Im Diskurs der Berliner Republik zur Europapolitik kommen sie allenfalls am Rande vor.
Ein weiterer Grund liegt in der inneren Machttektonik deutscher Europapolitik: Das relativ kleine Kanzleramt (mit 28 EU-Experten) kann über ein Sherpa-System von innenpolitischen Auseinandersetzungen relativ losgelöst agieren und spielt mit einer vom Rest des Landes entkoppelten Hauptstadtpresse über Bande. Und so wird in Deutschland vornehmlich von zwei Ländern gesprochen, wenn es um die Zukunft Europas geht: Deutschland und Frankreich. Früher gab es noch London, aber das hat sich bedauerlicherweise, vor allem für die Briten, ins Abseits geschossen.
Schlimmer: das Mantra, dass Merkel auf Macrons Visionen zur Zukunft Europas endlich reagieren soll, kulminierte nicht in einer breiten parlamentarischen oder medialen Debatte über die vielfältigen Interessen in Europa (oder gar in gut strukturierten Dialogen mit Bürgerinnen/Bürgern und Interessengruppen), sondern in einem Interview in einer großen deutschen Zeitung, hinter einer Bezahlschranke. Der Vizekanzler des Koalitionspartners reagierte dieser Tage ebenfalls nur per Interview. Auch das ist eine Auswirkung der Sherpakratie.
Der Rest wird Ende des Monats auf dem EU-Gipfel in Brüssel beschlossen, derzeit ausgehandelt eben jenen verschwiegenen Sherpas.
Und Länder wie Finnland? Oft wird in Deutschland bedauert, dass sich die kleinen Länder hinter dem großen Deutschland verstecken, solange es ihre Interessen durchsetzt. Mir sagte einmal ein Berater des deutschen Bundesfinanzministers, wie seltsam Ratstagungen im ECOFIN-Rat ablaufen: Der Deutsche spricht und die meisten folgen schweigend, wollen sich dann aber nicht vor den nationalen Kameras verantworten. Die Bundesregierung weiß, wenn sie sich dann nur noch mit dem Élysée-Palast in Paris einigt, kann sie vieles auch innerhalb Deutschlands durchsetzen. Alternativlos.
Das Ehepaar Aue hat 1985 seine Stiftung gegründet, da es die Vielfalt Europas zurückgewinnen wollte. Und mir gefällt dabei ganz besonders die Ausrichtung auf meine Muttersprache, die keinesfalls mit dem Nationalstaat gleichgesetzt werden darf. Die meisten meiner westfälischen Vorfahren sprachen ohnehin die Sprache der Hanse, die, wie ich lernen musste, die Existenz Helsinkis begründete. Die Schweden brauchten einen Konkurrenzhafen zum Niederdeutsch-/Dänisch sprechenden Reval. Ja, Handel schaffte Konflikte, aber meist war er Triebkraft für friedlichen Wettbewerb und Integration.
Für die Europäische Bewegung International und Deutschland liegen daher die Vielfalt Europas zusätzlich im pluralistischen Wettbewerb innerhalb der freiheitlichen Demokratien und in der jungen europäischen Demokratie begründet. Wir müssen uns gegen autoritäre Systeme und deren Spielarten außerhalb und innerhalb der EU durchsetzen. Der Konsens der 244 Mitgliedsorganisationen von Wirtschaft über Gewerkschaften, Umwelt-, Wohlfahrtsverbänden bis hin zu kleinen Bürgervereinen ist ähnlich positiv europäisch eingestellt, wie die Eurobarometerumfragen unter den Menschen in Deutschland. Generell gut, im Detail äußerst kritisch. Doch das ist beruhigend, wenn sich der Wettbewerb in bessere Produkte umsetzten lässt.
In „Vielfalt geeint“ geht daher weit über das hinaus, was die Berliner Erklärung von 2007 beschrieb: „wir sind zu unserem Glück vereint“. Die Vereinigung ist eine Vereinigung von Vielen, aber nicht nur zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch von gesellschaftlichen Gruppen, Minderheiten, Mehrheiten und Handel treibenden Konkurrenten, auch in Ideen.
Lassen Sie uns gemeinsam das Netz der guten demokratischen Kräfte ausbauen. Verzichten wir dabei nicht auf die Weisheit von Staatsführern und den Beamten, vertrauen wir aber nur einem doppelten demokratischen Netz, das der großen staatlichen Demokratie, aber auch der kleinen Demokratie in der Gesellschaft. Und schaffen wir dezentrale, grenzüberschreitende Verbindungen, die es zu kappen niemals für Populisten und Nationalisten gelingen darf.
Herzlichen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.