Rede von Dr. Jan Feller anlässlich des Kulturabendessens des Beirats der Aue-Stiftung am 19.8.2021

Sehr geehrte Herren Botschafter, sehr geehrte Vorsitzende Dr. Arrakoski-Engardt, liebe Beiratskolleginnen und -kollegen,

vielen Dank für die Einladung, den Vortrag des heutigen Abends zu halten. Den Vortrag möchte ich gerne zum Thema halten: “Daten sind das neue Lampenöl – die deutsch-finnische Wirtschaft im Umbruch”

Zu Beginn eine Publikumsfrage: Wer von Ihnen wusste, dass Deutschland schon seit vielen Jahren Finnlands größter Handelspartner ist, sowohl im Import als auch im Export? Und wussten Sie, dass Finnland jedes Jahr mehr Waren nach Deutschland exportiert als nach Nord-, Süd-, und Mittelamerika zusammen?

Die Bedeutung der deutsch-finnischen Wirtschaftsbeziehungen für Finnland, und in zunehmendem Maße auch für Deutschland, wird leicht unterschätzt.

Einige von Ihnen kennen mich möglicherweise als sehr zukunftsgewandten Menschen. Trotzdem möchte ich den Vortrag heute mit einem Blick in Vergangenheit beginnen, auch mit dem Risiko, im Thema deutsch-finnische Geschichte als Laie unter Experten zu reden. Aber, wie der Bundeskanzler meiner Jugend, Helmut Kohl, sagte: „Wer die Vergangenheit nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten.“

Die engen Wirtschaftsbeziehungen zwischen Deutschland und Finnland sind seit Jahrhunderten wichtiger Baustein im Fundament des finnischen Wohlstands. Lange bevor Finnland eine selbständige Nation wurde, war das Land ein wichtiger Produzent, z.B. von Fellen und Lampenöl. Den Handelsrouten der Wikinger ist es zu verdanken, dass finnische Produkte bis in den mittleren Osten exportiert wurden: Der Austrvegr, eine zentrale Handelsroute, lief durch die finnischen Schären über den Dnjepr und endete im fernen Bagdad. Die Wikinger schufen damit eine Vorform des Hanse-Netzwerks, das später einen großen Teil der finnischen Exporte handelte, meistens über Deutschland. In kurzer Zeit entwickelte sich die Deutschland für Finnland zum Tor in die Welt.

Nach dem ersten Weltkrieg war Deutschland auf den Export angewiesen, um seine Reparationszahlungen tätigen zu können. Zur gleichen Zeit stand die junge Nation Finnland vor der Aufgabe, ihre eigene Wirtschaft auch mit Hilfe von deutschen Maschinen, auf die Beine zu stellen. Im Jahr 1921 war Deutschland bereits Finnlands größter Importmarkt. In den folgenden Jahrzehnten bestand der Handel zwischen beiden Ländern zum Großteil im Austausch von finnischem Holz gegen fertig produzierte deutsche Waren.

 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Handel zwischen Finnland und Deutschland ein bisschen mehr in Richtung eines Intra-Handels, in dem ähnliche Produkte und Produktkomponenten zwischen den Ländern gehandelt wurden – auch wenn bis heute der finnische Export im Vergleich zum Import einen deutlich größeren Anteil an Rohstoffen aufwies. Um den Jahrtausendwechsel herum überholte die Telekommunikationsbranche zum ersten Mal die Forstwirtschaft als wichtigsten Exportsektor. Ein Drittel der gesamtfinnischen Exporte entfielen auf diese Branche. Damit bestand zum ersten Mal seit der Zeit von Fellen und Lampenöl ein bedeutender Teil der finnischen Exporte nach Deutschland aus Endverbraucherprodukten.

Diese Phase währte jedoch leider relativ kurz, und während die 2009er Finanzkrise Schockwellen um die Welt sandte, brach auch der Export von Mobiltelefonen dramatisch ein.

Wir bei Nokia verpassten den Übergang der Wertschöpfung in Mobiltelefonen von Hardware zu Software, und 2014 wurde die Mobiltelefonsparte von Microsoft übernommen, und sukzessive eingestampft.

Jetzt, ein knappes Jahrzehnt später, ist Finnland das digitalste Land der EU (nicht übrigens Estland, die sind nur besser im Marketing).

Und in diesem Jahr steht Finnland außerdem an Nummer 1 in einem anderen Ranking: dem Nachhaltigkeitsranking der Vereinten Nationen.

Genau diese beiden Themen bestimmen zurzeit die nächste Transformation der deutsch-finnischen Handelsbeziehungen: Digitalisierung und Nachhaltigkeit.

Finnland ist nicht nur seit 2019 das digitalste Land Europas – bereits seit vielen Jahren führt das Land das EU-Ranking in einem Bereich an, der innerhalb der Digitalisierung für die Zukunftsfähigkeit vielleicht am ausschlaggebendsten ist: Dem Humankapital, also der Kompetenz der Mitarbeiter.

Wenn man diesen finnischen Vorteil mit der Tatsache kombiniert, dass Deutschland sowohl im wirtschaftlichen, gesellschaftlichen als auch im Privatbereich in der Digitalisierung hinterherhinkt, zeichnet sich ein großes Potenzial für den Handel zwischen beiden Ländern ab. Die deutsche Industrie investiert jedes Jahr zig Milliarden Euro in die Digitalisierung ihrer Fertigung.

Das im Sommer 2020 beschlossene deutsche Hilfspaket sieht u.a. 5 Mrd. Euro Investitionen in KI vor, und ebenso 2 Mrd. Euro für den Bau von Quantencomputern. Ein finnisches Unternehmen –  unser Mitglied IQM –  wurde übrigens unlängst ausgewählt, ein Konsortium mit namhaften deutschen Unternehmen wie Infineon Technologies zu leiten, welches die Entwicklung von anwendungsspezifischen Quantenprozessoren vorantreibt. Es ist auch der aktuellen Pandemie zu verdanken, dass beide Länder –auf ihrem jeweils eigenen Niveau – gerade einen Digitalisierungssprung durchmachen; in Deutschland zum Teil wohl leider eher ein Digitalisierungshopser. 

Die Pandemie hat sich in den letzten anderthalb Jahren natürlich wie überall stark auf den deutsch-finnischen Handel ausgewirkt: Die finnischen Exporte nach Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner, brachen im ersten Halbjahr 2020 um mehr als 30% ein, im Gesamtjahr 2020 um 16,5%. Wir haben im ersten Halbjahr über 100 deutschen Mittelständlern geholfen, ihr Personal nach Finnland zu bekommen – teilweise bis hin zu persönlichen Telefongesprächen mit dem jeweiligen Grenzschutzbeamten.

Hunderte Fragen wurden geklärt, wie z.B. ob der Montagetrupp für eine Krankenhausinstallation nur mit dem gleichen LKW einreisen darf, auf dem das Gerät geladen ist. Oder ob eine finnische Windkraftanlage, eine Müllverbrennungsanlage in Vantaa, oder die Metro in Helsinki systemrelevant genug sind, um einen Wartungstrupp aus dem Ausland einreisen zu lassen.


Das zeigt uns übrigens auch, warum die Forderungen, die finnischen Grenzen dicht zu machen, völlig an der Realität vorbeigehen: Ohne deutsche Techniker und Ingenieure, die regelmässig nach Finnland kommen, würden in finnischen Grosstädten Müllverbrennungsanlagen ausfallen, die einheimische Kraftstoffproduktion würde über kurz oder lang zum Erliegen kommen, und der U-Bahn in Helsinki fehlten spezialisierte Wartungstrupps.

Eine weitere große Tranche des deutschen Konjunkturpakets zur Abfederung der wirtschaftlichen Corona-Folgen zielt auf die zweite Herausforderung, vor der Deutschland steht: 7 Mrd. Euro werden in Wasserstofftechnologie investiert, um die doppelte Energiewende Deutschlands zu ermöglichen.

Aktuell wird übrigens vorausgesagt, dass im Jahre 2030 nur 15% des deutschen Verbrauchs von Wasserstoff mit inländischer Produktion gedeckt werden können. Noch schlimmer sieht es wahrscheinlich beim grünen Wasserstoff aus. Für den Fall, dass Sie bei der aktuellen Debatte um Wasserstoff verschiedener Couleur den Überblick verloren haben: grüner Wasserstoff wird aus Ökostrom gewonnen, bei blauem Wasserstoff wird das bei der Produktion entstehenden CO2 gespeichert –man spricht von Carbon Capture and Storage, und türkiser Wasserstoff erzeugt bei der Produktion festen Kohlenstoff statt CO2. Die deutsch-finnischen Geister scheiden sich dann übrigens beim roten, mit Kernenergie gewonnenen Wasserstoff, den die Finnen im Allgemeinen als Klimaneutral und umweltfreundlich einstufen.

Viel passiert schon jetzt in diesen Bereichen: Finnische Unternehmen helfen dem deutschen Mittelstand, sich zu digitalisieren: Von smarten Energienetzen und Mikrowettervorhersagen für das autonome Fahren in der Kooperation von FORECA und Bosch, bis hin zu Augmented Reality-Lösungen für Fabriken und autonome Roboter in der Landwirtschaft, die nur dort düngen, wo es auch notwendig ist. Aber nicht nur Großunternehmen und der Mittelstand sind aktiv: 2019 brachten wir 50 deutsche Startups auf das Startup-Konferenz Slush, die dort von dem immensen Innovations- und Investitionsfluss profitieren konnten, der Pasila jeden Spätherbst durchfließt. 

Der finnische Vorsprung in Technologie und Nachhaltigkeit hat meines Erachtens auch etwas mit einer Einstellung oder gar einem Charakterzug der Finnen zu tun. Als Bundespräsident Steinmeier uns im September 2018 besuchte, durfte ich einen runden Tisch der Wirtschaft moderieren, in dem es vor allem um eine Frage ging: Die Zukunft der Arbeit.

Der Präsident war beeindruckt, wie Finnland sich für eine Zukunft der Arbeit aufstellt, in der künstliche Intelligenz eine wichtige Rolle spielen wird: Mehr als ein Drittel aller finnischen Jobs, eine Million, werden sich durch KI verändern – von Rechtsanwälten, Versicherungsangestellten und Banken, bis hin zu Ärzten oder auch Berufen wie dem des Schreiners. Dabei geht es übrigens weit weniger häufig um ein Ersetzen des Menschen als vielmehr um eine Unterstützung für den Menschen. So trifft ein KI-Algorithmus z.B. bei der medizinischen Diagnose ersten Studien zufolge mindestens genauso oft ins Schwarze wie der Mensch, von KI-unterstützte Diagnosen durch den Arzt sind jedoch noch deutlich sicherer. Besonders beeindruckend fand Bundespräsident Steinmeier das finnische Bildungssystem, die digitale Infrastruktur und die Einstellung der Finnen. Das sind übrigens quasi die gleichen Punkte, die uns deutsche Tochtergesellschaften in Finnland immer wieder als Standortvorteile nennen.

Die Einstellung der Finnen gegenüber dem Neuen ist meines Erachtens nach geprägt von dem gleichen Grundvertrauen, auf dem die finnische Gesellschaft schon seit langem basiert: Einem Vertrauen in das faire, ehrliche Verhalten des Gegenübers. Deutschland ist wiederum, und das nicht nur wegen der zwei Diktaturen des letzten Jahrhunderts, schon seit langem eine kontrollbasierte Gesellschaft. Überspitzt gesagt: Der Unterschied wird deutlich, wenn eine neue Technologie entwickelt wird: Während die Finnen sich diese neue Technologie anschauen und überlegen, wie man sie für das Land vorteilhaft einsetzen könnten, wird in Deutschland als erstes eine Risikoanalyse gemacht, und danach eine Bürgerbewegung dagegen gegründet. Alleine die Tatsache, dass der deutsche Bundestag ein Büro für Technikfolgenabschätzung – und nicht etwa für Technikpotenzialanalyse – unterhält, spricht Bände.

Beispiele für die proaktive Herangehensweise der Finnen sind z.B. die von Privatmenschen gegründete Programmierschule “Hive Helsinki” oder der online-Kurs Elements of AI, den die AHK Finnland übrigens nach Deutschland gebracht hat. Und der Erfolg einer solchen positiven Grundeinstellung zeigt sich auch daran, dass selbst das entlegenste Mökki Zugang zu schnellem Internet hat, Finnland mit dem fortschrittlichsten Stromnetz Europas für die Nutzung von regenerativen Energiequellen gut aufgestellt ist und in Finnland schon 2010 das erste digitale Apothekenrezept ausgestellt wurde.

Aber auch in anderen, traditionellen Branchen hören wir beständig interessante Nachrichten, die zum Teil ebenfalls durch Nachhaltigkeit oder den finnischen Digitalisierungsvorsprung geprägt sind:

So übernimmt der finnische Fahrschulkonzern CAP Group, der führend in der Nutzung von Fahrsimulatoren ist, die deutsche Rettig Gruppe. Der deutsche Sportartikelhersteller Adidas wird Ankerinvestor beim finnischen Textilfaserproduzenten Spinnova – das Unternehmen stellt Textilfasern aus Holz oder landwirtschaftlichen Abfällen ohne schädliche Chemikalien her. Auch haben Adidas und Marimekko zu Beginn des Sommers eine Zusammenarbeit angekündigt.

Auch der Logistiksektor befindet sich in einer Veränderungsphase: Als Folge der Coronakrise planen fast 70% der deutschen Unternehmen eine Diversifizierung ihrer Lieferketten. Die Hälfte davon sucht nach neuen Lieferanten (ein Großteil aus der EU), und 40% erhöhen ihre Lagerhaltung. Das zeichnet sich auch schon konkret ab: Die deutsche Lebensmittelkette EDEKA lässt zurzeit mehrere Logistikzentren, die über 1000 Märkte beliefern, von der finnischen CIMCORP automatisieren. Der Trend zur Diversifizierung in der Lieferkette bietet übrigens auch für finnische Industrieunternehmen neue Geschäftsmöglichkeiten.

Sie sehen, die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Finnland sind heute für beide Länder mindestens genauso wichtig wie zur Zeit der Wikinger. Heute sind sie aber tiefer und bilateraler als jemals zuvor. Produkte, Dienstleistungen und Innovationen bewegen sich zwischen beiden Ländern, und unterstützen den Wohlstand und schaffen die Innovationskraft, die unsere beiden Länder brauchen. Und datenbasierte Geschäftsmodelle haben das Lampenöl ersetzt.

Dr. Jan Feller ist Geschäftsführer der AHK Finnland und Mitglieg des Beirats der Aue-Stiftung.