Katja Sutela: Auf den Spuren von Mimi Scheiblauer und ihren Gedanken
25.11.2024„Voices of a Silent People – Renovated Bodies“ ist ein von der Kone Foundation finanziertes dreijähriges Forschungsprojekt, das sich mit der Nachkriegsgeschichte der Gehörlosen in Wohnheimen in Finnland beschäftigt (https://www.hiljaisenkansan.com/). Das Projekt besteht aus drei verschiedenen Teilstudien: Erinnerungen an die Internatsschule, Maßnahmen im Bereich der Hörvorsorge und Ohrchirurgie sowie Musikerziehung. Während des Projekts wurden mehr als 100 gebärdensprachliche Gehörlose in ihrer Muttersprache Finnisch oder in finnisch-schwedischer Gebärdensprache befragt.
Musikbezogene Erinnerungen wurden als einer der Teilbereiche der Studie ausgewählt, weil wir, die Projektforscherinnen, davon ausgingen, dass das Thema (Musikerziehung) frühe Wahrnehmungen von Gehörlosigkeit und Hören aufzeigen würde. Das Schulfach Musik wurde bis zur Reform der Grundschulbildung (1972) als Gesang oder Musik bezeichnet. In Gehörlosenschulen sollte der Gesangsunterricht die Entwicklung der Gehörlosensprache und des Sprechens unterstützen. Da der Musikunterricht bzw. die damit verbundene Rhythmuserziehung so stark mit der Spracherziehung verknüpft war, konnten sich viele der Befragten nicht einmal daran erinnern oder wussten nicht, dass sie Musikunterricht erhalten hatten. Für die meisten von ihnen waren die verschiedenen Aussprache- und Atemübungen sowie das laute Singen in ihrer Erinnerung unangenehm und standen in keinem Zusammenhang mit dem Gesamterlebnis der Musik selbst. Ab den 1970er Jahren und mit der Entwicklung der Technologie wurden die Methoden des Musikunterrichts jedoch vielfältiger und die multisensorische Natur der Musik wurde besser genutzt.
Das Potenzial der Musik als multisensorische Aktivität wurde bereits seit den 1960er Jahren in der Pädagogik von Terttu Martola (1936–2018), einer Lehrerin für rhythmische Bewegung für gehörlose Kinder, außerhalb der Schule berücksichtigt. Martola, die von Geburt an gehörlos war, sah in der Kombination von Rhythmus, Bewegung und Musik eine Möglichkeit, die ganzheitliche Entwicklung gehörloser Kinder zu fördern. Ihre pädagogischen Ideen basierten auf ihren Erfahrungen als Turnerin und ihren eigenständigen Studien in der Musiktheorie, die an sich schon ihre Vorreiterrolle als Gehörlosenpädagogin belegen. Ihr pädagogisches Denken und Handeln knüpfte an die Verbindung von finnischer Frauengymnastik und Musikpädagogik sowie an die Idee des Schweizer Pädagogen Emilé Jaques-Dalcroze (1865–1950) vom ganzheitlichen und kinetischen Erleben von Musik an. An der von Jaques-Dalcroze 1910 in Hellerau bei Dresden gegründeten Schule für rhythmische Gymnastik wurden viele europäische Gymnastinnen, Tänzerinnen und Musikpädagoginnen von Jaques-Dalcrozes Rhythmik, die Musik und Bewegung verbindet, beeinflusst und inspiriert. Es ist davon auszugehen, dass es mehrheitlich Frauen waren, aber ganz sicher weiß man es nicht, weil die Texte auf Englisch und Finnisch verfasst wurden und keine geschlechtsspezifische Zuordnung möglich ist.
Auf meiner Suche nach Geschichte und Forschung über Musikpädagogik für Gehörlose stieß ich oft auf den Namen Mimi Scheiblauer (1891–1968). Die Tochter einer Wiener Familie hatte bereits zu Beginn des letzten Jahrhunderts sowohl Sonderpädagogik als auch Musik bei Jaques-Dalcroze selbst studiert, sowohl in der Schweiz als auch in Hellerau bei Dresden. Sie hatte eine auf Bewegung und Rhythmus basierende Musikpädagogik für gehörlose und schwerhörige Kinder entwickelt. Ihre Ideen über das ganzheitliche verkörperte Erleben von Musik entsprachen einem zeitgemäßen Verständnis des Menschen als Ganzes und die Verbindung von Körper und Geist. Das verkörperte Erleben von Musik durch Bewegung, Klangschwingung und Interaktion ermöglichte auch gehörlosen Menschen das Erlernen von Musik.
Ich reiste in die Bibliothek der Universität Wien, um über Mimi Scheiblauer in der deutschsprachigen Literatur nachzuforschen. Es gibt nichts über Scheiblauer in finnischer Sprache und nur sehr wenig in englischer Sprache. Als ich über den Kern ihres pädagogischen Denkens las, fragte ich mich, wie sehr zum Beispiel die finnische Gehörlosenpädagogik von einer Pädagogik profitiert hätte, die über hundert Jahre hinweg entwickelt wurde. Obwohl Martolas Hintergrund in der Frauengymnastik in Finnland es ihr ermöglichte, von Jaques-Dalcrozes Ideen beeinflusst zu werden, war sonst kein einziger Rhythmiklehrer in der Lage, den Lehrplan der finnischen Gehörlosenschulen zu beeinflussen.
Die Erinnerungen (61 Interviews) an den Musikunterricht in den 1960er und 1970er Jahren stimmen in vielerlei Hinsicht mit den Zielen des Lehrplans der Gehörlosenschulen überein. In den Lehrplänen wurde die Auffassung betont, dass Musik ein Mittel zur Unterstützung der Entwicklung der Lautsprache und der finnischen Sprachkenntnisse ist. Nach den Schilderungen der Teilnehmer/-innen an dieser Studie wurde in den Gehörlosenschulen weitgehend gemäß den Lehrplänen gearbeitet. So spiegelte sich in den Lehrplänen von 1966 und 1973 im Fach Musik noch die Pädagogik wider, die den Schwerpunkt auf Sprache und Sprechen legte. Im Lauf der 1970er-Jahre wurde versucht, die Sprachproduktion und die auditorische Aktivierung durch verschiedene Rhythmusübungen, Singspiele und Instrumentenerkennungsübungen zu stärken. Die Daten zur Erinnerung an die Gebärdensprache bestätigen die Ziele der Lehrpläne; jedoch ergaben die Interviews auch Erinnerungen, die Besonderheiten aufzeigten. Diese bezogen sich in der Regel auf die Fähigkeit des Lehrers, Gebärdensprache zu verwenden oder anderweitig die individuelle musikalische Handlungsfähigkeit der gehörlosen Schüler und Schülerinnen zu unterstützen. Das eigene Interesse der Schüler und Schülerinnen an Musik trug zur Gestaltung dieser Erfahrungen bei. Diese Erinnerungen stellten somit auch den starken lenkenden Einfluss von Lehrplänen in Frage.
Die positiven Erinnerungen an den Musikunterricht nahmen zu, als als es um die 1980er-Jahre und später ging. Aber auch danach sind die Erfahrungen mit Kritik an der auditiven Ausrichtung des Musikunterrichts behaftet. Diese Kritik ist wahrscheinlich ein relativ genaues Abbild der Situation im Musikunterricht, der auch heute noch nicht in jeder Hinsicht inklusiv ist. Allerdings ist zu bedenken, dass die gehörlosen Teilnehmer/-innen an dieser Studie eine Zeit beschreiben, in der die gleichberechtigte Inklusion weder bekannt noch ein Thema war, wie es heute der Fall ist. Die zeitliche Einordnung der Erinnerungen auf einer Zeitachse von fast sechzig Jahren beeinflusst sowohl den Inhalt als auch die Art und Weise, wie diese Erinnerungen wachgerufen werden, wie sie eingeordnet werden und welche Bedeutungen ihnen zugeschrieben werden.
Die Ideen und pädagogischen Innovationen von Pionierinnen wie Scheiblauer und Martola fanden nicht immer Eingang in die offiziellen Lehrpläne, aber ihr Wert ist nicht zu leugnen. Ihre Arbeit erinnert uns daran, wie wichtig es ist, auf die Bedürfnisse der Schüler und Schülerinnen zu hören und sie ganzheitlich zu verstehen. Es lohnt sich, darüber nachzudenken, wie wir diese historischen Lehren heute besser nutzen und anwenden können, um allen Lernenden, einschließlich Gehörlosen und Schwerhörigen, eine reichhaltigere und individuellere Lernerfahrung zu bieten. Diese Pädagogen der Vergangenheit haben uns ein Vermächtnis hinterlassen, aus dem wir Inspiration und neue Ideen für die Zukunft der Bildung schöpfen können.
Katja Sutela
Katja Sutela ist Dozentin für Musikpädagogik und Forscherin an der Universität von Oulu.