Luise Liefländer-Leskinen: Margarethe Aue – von Riga über Moskau, Kokand und Tallinn nach Helsinki (1/2)

Geschichte einer Kosmopolitin vor hundert Jahren… Teil 1

Kindheit und Jugend

Margarethe Aue (geb. von Rascha) war die Mutter des Begründers der Aue – Stiftung, Theodor Aue. Sie wurde 1886 in „Majorenhof am Rigaschen Strande“, d.h. bei Riga in Lettland geboren als Tochter des Fabrikanten Theodor von Rascha und seiner Frau Sophie (geb.Zwerner). Sie hatte eine vier Jahre ältere Schwester, Ellinor. Beide Mädchen besuchten zunächst eine deutsche Schule in Riga. „Wir besuchten die private deutsche Mädchenschule von Frl. Emma Reinsch.“ (S.71)

Schon als Neunjährige aber zog Margarethe mit ihrer Familie zurück nach Moskau, von wo die Eltern seinerzeit gekommen waren. Der Vater hatte noch viele Freunde und geschäftliche Verbindungen hier. „Unser Umzug nach Moskau vollzog sich im Jahre 1895, ein Jahr nach der Krönung von Nikolai II. Mama zog fürs erste mit uns zu einer Freundin, welche eine sehr große Familie und darum auch sehr große Wohnung hatte. Ihr Mann war Textiliengroßhändler.“ (S.72) Die Mutter suchte eine passende Schule für die Mädchen und wählte ein Mädchenprivatgymnasium. „Die Schule war groß, hatte auch ein Internat und konnte sich ausgezeichnete Lehrer leisten.“ (S.72) Interessant ist, was Margarethe Aue in Bezug auf die vorherrschenden Sprachen und Sprachkenntnisse sagt: „Wegen unserer ungenügenden Kenntnisse im Russischen kamen wir in niedrigere Klassen als in Riga, aber schon am Ende des ersten Jahres rückten wir ganz nach oben in unseren respektiven Klassen.“ (S.72) Auch eine Wohnung ganz in der Nähe der Schule fand die Familie bald. Einige Details in Bezug auf ihre Schule erwähnt Margarethe noch, so dass man einen Eindruck vom „höfischen Moskau“ in der Zarenzeit bekommt. Der Name der Privatschule richtete sich immer nach der jeweiligen Vorsteherin – zunächst Pussil – Schule, danach Mannsbach – Schule, denn Fräulein Felicie Mannsbach hatte die Schule übernommen. Zum Schulgebäude und besonderen Ereignissen erzählt sie: “Das Gebäude war früher das Wohnhaus des Fürsten Galitsin gewesen und dieser Fürst Galitsin mit seiner Fürstin waren immer zugegen bei allen offiziellen Schulereignissen. Die Fürstin verteilte eigenhändig alle Belohnungen und Auszeichnungen. Zu dieser Feier wurde wochenlang vorher der ‚Hofknix‘ geübt, und zwar war der Tanzlehrer, der ihn den Schülerinnen beibringen musste, Ballettmeister in der Großen Oper.“ (s.73)

Der Vater von Margarethe war lange krank und starb 1907 und die Mädchen konnten die Schule nur auf Grund einer Erbschaft ihrer Tante Sofie beenden. Durch Nutznießung der Zinsen bezahlte die Mutter die Schule nebst Klavierunterricht und die Wohnung für die Familie. Aber schon früh verdienten die Mädchen selbst Geld.

Zunächst unterrichtete Margarethas Schwester Elly jüngere Schüler und später auch Margarethe: „Elly hat in einer Familie Francke, deren drei Mädchen unsere Schule besuchten, jahrelang täglich ihnen geholfen bis zum Schlussexamen. Frau Francke und ihre Schwestern waren Besitzerinnen einer Zellulose- und Papierfabrik in Okulovka auf der Strecke Petersburg – Moskau. Herr Francke, ein Amerikaner, war der Direktor der Fabrik. In dieser Familie in Okulovka war ich 2 Sommer ‚Sommerlehrerin‘, während Elli also langjährige ‚Winterlehrerin‘ war.“  Eine Schweizerin, M:lle Louise Fatton, war Erzieherin der Kinder in Okulovka und brachte Elly und Margarethe in der französischen Sprache viel bei. Margarethe beschreibt die Sommer in Okulovka als sehr schön und entspannend: „Das Sommerleben in Okulovka war sehr angenehm: Man spielte Tennis, man fuhr auf die Jagd – Herr Francke war ein sehr guter Schütze und auch der kleine Robik hatte schon ein Gewehr und schoss. Mehrere Engländer aus Moskau, welche übrigens bahnbrechend waren im russischen Sport, verkehrten bei Franckes.“ (S.74)

Es ist eine multikulturelle Gesellschaft, in der sich Margarethe Aue schon als junges Mädchen bewegt und das Beherrschen der sie umgebenden Sprachen, Deutsch als Muttersprache, daneben Russisch, Französisch und auch Englisch ist eine Selbstverständlichkeit für sie. Bis zum Jahre 1915 arbeitet sie an der Schule von Felicie Mannsbach. „In der Schule arbeitete ich täglich von 9 -2 in der Vorschule, dann ging ich zu meinen Privatstunden und mehrmals in der Woche abends besuchte ich Kurse, erst Rechtslehre, Psychologie, Methodik des Rechenunterrichts, dann, als ich anfing, mich für den Unterricht geistig behinderter Kinder zu interessieren, besuchte ich Spezialkurse, unter anderem rhythmischer Gymnastik.“ (S.76)

Als der erste Weltkrieg ausbricht, am 3. August 1914, ist Margarethe mit ihrer Mutter in Karlsbad in Österreich, bei einer Kur für die Mutter. “An einem Sonntag, als in Karlsbad ein großes Rennen stattfand, verbreitete sich das Gerücht, dass der Kronprinz Ferdinand in Sarajevo ermordet worden sei. Das Rennen wurde abgebrochen, alle Fürstlichkeiten, Minister und hohen Beamten wurden nach Wien berufen und die Stimmung wurde unruhig. Sehr bald schon sah man in den Straßen Umzüge von Leuten mit dem Bildnis des Kaisers, welche die Nationalhymne sangen.“ (S.15) Nach einer abenteuerlichen Zugreise über Riga, wo Margarethes Schwester mit ihren Töchtern Ferien gemacht hatte, gelangen sie schließlich wieder zurück nach Moskau, „nach Hause“.

Verlobung und Hochzeit mit Max Aue

Über seine Schwester Christine Aue, die Freundin und Klassenkameradin von Elly gewesen war, hatte Margarethe schon früher Max Aue, einen der Brüder kennengelernt und verlobt sich nun mit ihm. Max Aue leitet in Kokand, in Turkestan, die Firma Simunek, die Maschinen für die Baumwollindustrie herstellt. Für Margarethe steht also eine große Veränderung bevor, die Umsiedlung von Europa nach Asien. Ihre Mutter kümmert sich um die Aussteuer und den Möbelversand nach Kokand und reist mit zur Hochzeit: „Meine Mutter begleitete mich nach Turkestan. Ich nahm Abschied von meiner lieben Schule, in der ich selbst gelernt hatte, von meinen netten Kindern und von meiner geliebten Schulvorsteherin, Fräulein Felicie Mannsbach, die zuerst meine Lehrerin gewesen war und dann nicht nur meine Vorgesetzte, sondern meine mütterliche Freundin.“ (S.16) Margarethe macht sich unerschrocken auf die Reise in eine ganz neue Welt, der sie mit Offenheit entgegensieht: „(…) und als der Zug nun zu rollen begann, immer weiter und weiter nach Osten, hatte ich das deutliche Gefühl, dass das alte Leben allmählich versank und vor mir, ganz weit im Osten, ein neues ganz unbekanntes meiner wartete.“ ( S.17) Sie beschreibt ihre Reise in die Weiten der asiatischen Landschaften, die fünf Tage dauerte,  genau. Sie scheint die lange Zugfahrt zu genießen und ist begeistert von der exotischen Natur:

„Unsere Reise ging von Moskau über Rjasan, Samara (jetzt Kuibyshev), Uralsk, Perowsk, Aktjubinsk, Kazalinsk, Aralsee, Taschkent. Vor Taschkent fuhren wir durch Kasachstan, welches größtenteils aus Wüste besteht. Da wir April hatten, war die Wüste noch nicht ganz ausgebrannt und die grünen Grasflächen in den Oasen waren übersät von rotem Mohn. Der Himmel war tiefblau und die Luft von einer besonderen Klarheit. Hin und wieder zeichnete sich am Horizont eine Kamelkarawane ab, die langsam über die vom Wind gebildeteten Sandwellen dahinschritt.“ (S.19) In einer evangelischen Kirche in Taschkent findet am 30.April 1915 die Hochzeit statt, ein baltendeutscher Pastor traut das Paar. Margarethe schildert ihre Eindrücke so:  „Ich muss gestehen, dass ich von seiner Predigt nicht viel erfasste, denn ich war so fasziniert von den Schwalben, die um den Altar kreisten, und von dem Rosenteppich der von der Eingangstür bis zum Altar führte. In Taschkent stehen die Rosen im April in voller Blüte. Nach der Trauung wurde im Hause jüdischer Freunde meines Mannes gefeiert (sie waren aber getauft), mit viel Erdbeeren, die im April schon reif sind in Turkestan, und mit viel Champagner, der in Turkestan hergestellt wird, weil die verschiedensten Sorten Weintrauben dort reifen.“ (S.19)

Leben und Gesellschaft in Turkestan

 Am Abend des 30. April beginnt die Hochzeitsreise des Paares nach Samarkand, das ca. 12 Stunden entfernt ist und Margarethe beschreibt sie als eine Reise wie aus „Tausend und einer Nacht“.  Sie ist fasziniert von der fruchtbaren Landschaft und den prächtigen Palästen und Moscheen in Samarkand und beschreibt die besondere Atmosphäre, die auch durch das Fehlen von Frauen im öffentlichen Raum gekennzeichnet ist: “Auf dem Registan, dem großen Platz zwischen den Moscheen, sahen wir einen Märchenerzähler, umgeben von einer Menge interessierter Zuhörer in Hockstellung, natürlich nur Männer. Frauen durften sich damals nicht zeigen. Auf der Straße trugen sie einen mantelartigen Überwurf mit einem schwarzen, aus Rosshaar geflochtenen Schleier vor dem Gesicht. Wenn sie von ihrem Vater an ihren zukünftigen Mann verkauft wurden für so und so viel Reis, Mehl, Schafe, so durfte der Mann seine Zukünftige vor der Eheschließung nicht sehen.“ (S.25)

Margarethe nimmt deutlich Stellung hinsichtlich dieser Sitten und der Rolle der Frau:

„Die Befreiung der Frau in Turkestan durch die Sowjetregierung war eine Tat von ganz großer Bedeutung. Jetzt tragen sie nicht nur ihr Gesicht offen, sondern sie lernen und studieren und wenn sie begabt sind, können sie alles werden. Es gibt zahlreiche Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Beamtinnen und im Jahre 1973 haben meine Söhne sogar einen weiblichen Dirigenten erlebt.“ (S. 25)

Von Samarkand aus reisen sie nach einigen Tagen weiter nach Kokand im Ferghanatal, dem Zentrum der Baumwollzucht. Diese Stadt soll nun Margarethes neue Heimat werden, aber bevor sie endgültig ihr neues Haus beziehen, geht es noch für ein paar Wochen in die Berge nach Arslan-Bob. Sie fahren zunächst mit der Bahn nach Andischan, dem Endpunkt der Turkestaner Bahn. Dann geht es weiter mit Pferdewagen hoch in die Berge, aber die Hitze und starke Steigung zwingen sie unterwegs Station zu machen: „Auch waren wir gezwungen, in einem ‚Kischlak‘ (Dorf) zu übernachten, und zwar in einer ‚Tschai-Chana‘ (Teehaus). Unten saßen die Männer mit Samowar und grünem Tee, wir aber kletterten eine Leiter hinauf in einen offenen Raum. Auf dem Lehmboden waren dicke, wattierte Decken ausgebreitet. Auf denen schliefen wir und guckten durch die Türöffnung in den dunklen südlichen Sternenhimmel.“ (S.27) Margarethe beschreibt die zauberhafte Berglandschaft mit ihren zahlreichen Pistaziensträuchern und großen Walnussbäumen, sowie verschiedensten anderen Bäumen. Ihr Mann sorgt auf die hier angemessene Weise für Unterkunft und Verpflegung: „Mein Mann kaufte unterwegs ein Pferd und mietete einen Kirgisen als Koch. Das war notwendig, denn da oben gab es ja keinerlei Verkaufsstellen und der Kirgise musste in die Dörfer reiten und Brot, Milch, Eier, Schaffleisch usw. kaufen. Wir hatten Tee, Kaffee, Graupen, Zucker usw. mit uns, auch einiges Geschirr. Eine Kirgisen-Familie brachte auf einem Ochsen ein großes Kirgisen-Zelt herbei, welches unter einem riesigen Walnussbaum von den Kirgisinnen aufgestellt wurde.“ (S.27)

In dem Kirgisen-Zelt, das aus Koschma (Filz aus Pferdehaar und Schafwolle) hergestellt ist, schlafen sie mit offenem Dach und bewundern den sternenbesäten, dunklen südlichen Himmel. Es gibt auch viele Bienen hier und russische Imker und einmal übernachten sie sogar im Heuschober eines Imkers. Margarethe lernt jetzt Reiten auf dem Rücken eines kirgisischen Pferdes: „Ich hatte früher niemals geritten, aber nun wurde ich aufs Pferd gesetzt, natürlich Herrensattel, und musste reiten. Trab, Galopp, Übergang von einem zum anderen, und das machte mir riesigen Spaß. Mein Mann hatte ein zweites Pferd gekauft und wir machten herrliche Ausflüge zu Pferde. Die kirgisischen Pferde sind sehr geschickt im Klettern und sehr vorsichtig und man kann sich ihnen ruhig anvertrauen. Die Natur war wundervoll, es gab Wiesen mit hohen weißen Malven besät, es gab Quellen mit kristallklarem Wasser und zahlreiche Gebirgsbäche, und hoch oben im blauen Himmel kreisten die Adler.“ (S.28)

Aber die fast paradiesisch schöne Zeit hat bald ein Ende, sie müssen zurückkehren in die „dumpfe Luft im Tale“, in der es Margarethe zunächst scheint, dass sie dort nicht existieren könne „aber wenn man muss, dann geht es.“ (S.28) Zudem wird am 15. August ihr Mann einberufen, als früherer ausländischer Untertan wird er allerdings nicht in die aktive Armee, sondern in die Landwehr eingereiht. (S.29) Er wird zur Bewachung eines großen Lagers in Kokand eingeteilt. Die Situation wird von Margarethe so dargestellt: “Die Deutschen wurden ja nach Sibirien geschickt. Wir bekamen später viele Skorbut-kranke Gefangene, die am Bau der Murmansk-Bahn gearbeitet hatten und dort durch die ausschließliche Fleischnahrung an Skorbut erkrankt waren. In Turkestan bekamen sie ausschließlich vegetarische Ernährung und wurden auch gesund.“ (S.29)

Familie Aue bekommt Nachwuchs

Auch sonst stehen einige Veränderungen bevor: “Ich hatte schon längst die Gewissheit, dass ich im März Mutter werden würde und wir beschlossen, eine größere Wohnung ohne Treppe zu mieten. Unsere neue Wohnung hatte vier große Zimmer, Badezimmer, Küche und ein Zimmer für die Hausangestellte.“ (S.29) Als größtes Problem beim Umzug erweist sich der Flügel, der schließlich von zwölf Sarten erst durch die staubigen Straßen und schließlich durch die Verandatür ins Haus gebracht wird. Nun kann auch Margarethes Mutter ein eigenes Zimmer angeboten werden und sie zieht von Archangelsk über Moskau nach Kokand zur Familie Aue. Weihnachten und Silvester 1915/16 feiern die Aues noch ganz vergnügt mit Freunden, aber die Zeiten werden immer unsicherer und auch Überfälle auf Wohnungen kommen schon vor.

Theodor Aue wird am 15. März 1916 geboren und die Umstände seiner Geburt beschreibt Margarethe so: „Eine Frauenklinik kam nicht in Frage, das wurde zu Hause abgemacht und am 14. März um 10 Uhr abends ging mein Mann die Hebamme holen. An diesem Abend tobte ein wütenden ‚Buran‘. Dieser Wind erreicht eine besondere Stärke, weil er aus einer Richtung kommt, in der er sich durch eine Bergenge durchzwängt. Der Boden in Ferghana besteht zum Teil aus dem fruchtbaren Loss, in dem die Baumwolle so gut gedeiht, und wenn der trocken ist, so bildet er einen ganz feinen Staub, der in Nase, Augen und Ohren dringt. Mein Mann musste die Hebamme kräftig stützen, damit sie gegen den Sturm ankam, aber sie kamen wohlbehalten an. Später kam auch meine Ärztin, Frau Pistol, und die beiden Frauen mussten viel Geduld aufbringen – von 10 Uhr abends am 14. März bis 18 Uhr am 15.März. Da war der sehr stattliche Weltbürger endlich da und wir waren alle froh.“ (S.30) Es ist typisch für Margarethe, dass sie sich zwar um die Geduld der anderen Sorgen macht, aber ihr eigenes Leiden bei einer so langen Geburt gar nicht erwähnt, sondern nur sagt, dass alle froh waren, als das Kind endlich geboren war.

Das „Problem des Sommers“, wie sie es nennt, kommt nun als Nächstes auf sie zu, denn in Turkestan sterben viele Kleinkinder an Darmerkrankungen, die wegen der großen Hitze auftreten. Also geht es in kühlere Gegenden, Richtung Moskau. „Das waren nun wieder vier Tage und fünf Nächte (Reise), aber wir kamen gesund an. Aues hatten in dem Sommer eine Villa in Tsaritzino gemietet, das ist ein naturschöner Ort, nicht weit von Moskau, mit einem großen Teich und mit einem alten Palast, den Katharina die Zweite für ihren Günstling Potjomkin hatte erbauen lassen.“ (S.30) Der kleine Theodor entwickelt sich gut, er wird gegen die Pocken geimpft und die Taufe findet nun statt, und zwar durch einen reformierten Pastor. Auch Max Aue reist zu dieser Feier an, aber muss gleich wieder zurück nach Kokand. Als der Herbst naht, fährt Margarethe mit dem Kind wieder zu ihrem Mann und lässt schweren Herzens ihre Mutter in Moskau zurück. In Kokand wird nun eine Wärterin für das Kind, eine „Njanja“ engagiert.

Politisch unruhige Zeiten

Als 1917 der Zar abdankt, sagt diese Njanja: „Wie wird denn der Körper ohne Kopf leben?“ (S.31) Überhaupt werden die Zeiten immer unruhiger, die russischen Soldaten desertieren in Mengen, ein Staatsminister löst den nächsten ab in Petersburg. „Dann wurde Lenin im plombierten Wagen von den Deutschen durchgelassen nach Russland und gründeten den Rat der Arbeiter, Bauern und Soldaten.“ (S. 32) Auch in Turkestan kommt die neue Regierung langsam an die Macht.

Die Firma Simunek verkauft alle Maschinen und -teile, die Inflation steigt ständig. Also beschließt Max Aue, ein Haus zu kaufen am Rande der Stadt, das allerdings noch einige Umbauarbeiten erfordert. Das „Problem des Sommers“ wird diesmal dadurch gelöst, dass die Familie ein Sommerhaus in der Bergstadt Osch mietet. In Kokand war eine Masernepidemie ausgebrochen mit Lungenkomplikationen und davor soll der kleine Theodor bewahrt werden. Er erkrankt jedoch gleich am zweiten Tag, nachdem die Familie in Osch angekommen ist und nur mit Mühe und durch großen Einsatz der Hausärztin Frau Pistol kann der Kleine gerettet werden. Im Herbst zieht die Familie wieder nach Kokand und jetzt kommt auch Margarethes Mutter endgültig aus Moskau, da die Situation dort untragbar geworden ist, man musste u.a. stundenlang Schlangestehen, um etwas Essbares zu bekommen. Im Spätherbst ist das neue Haus bezugsfertig und ein österreichisches Paar, Ida und Jacob Reuter, das aus dem Lager entlassen worden war, hilft beim Umzug und dann auch bei der Betreuung der zwei Kühe, die die Familie besitzt. Für die Selbstversorgung sind diese Tiere unerlässlich.

Die Widersacher der Sowjetregierung hatten eine sog. “Autonome Regierung“ in Turkestan gebildet, aber schon bald wird klar, dass deren Anhänger verfolgt werden und fliehen müssen. Dazu gehört z.B. der junge Pletzer aus Taschkent, in dessen Elternhaus die Aues ihre Hochzeit gefeiert hatten, und er reist mit seiner Frau Anfang 1918 nach Sibirien. Margarethe erzählt: „Dieses Sylvester 1917/18 haben wir noch ganz vergnügt gefeiert mit ihnen (Pletzers) und anderen Freunden. ich hatte den Eindruck, dass alle vergessen wollten, was uns umgab und was uns bevorstand und einfach fröhlich sein wollten. Die junge Frau Pletzer spielte und sang sibirische Tschastuschki (Volkslieder) und Herr Sanftleben, dessen Familie mit uns in Osch gewesen war, führte eine Polonaise an durch unsere neuen Zimmer.“ (S.34)

Dramatischer wird es, als Herr Siegel, ein anderer Bekannter der Familie, verschwinden muss. Er war zuvor zum Finanzminister der Autonomen Regierung gewählt worden und wird nun von den Sowjets gesucht. „Er spazierte mit seiner Frau ganz gemächlich zu uns, die Frau ging bald nach Hause, denn sie hatte ihre alten Eltern und ein großes Haus mit vielen Dienstboten. Er blieb erstmal über Nacht bei uns, aber als am nächsten Vormittag berittenes Militär vor unserem Hause erschien, verstanden wir, dass seines Bleibens hier nicht länger war. Mein Mann ging zu den Berittenen hinaus, um ihnen zu sagen, dass kein Siegel da sei, und dieser verschwand durch die Küche, über Nachbargrundstücke zu Bekannten.“ (S.34) Die Familie Siegel gelangt schließlich nach Moskau und zog nach dem Kriege nach Berlin, wo Herr Siegel erfolgreich arbeitete und wieder Hausbesitzer wurde. Dennoch endet diese Geschichte tragisch: „Aber damals standen die deutschen Finanzen unter amerikanischer Kontrolle, und als durch ein Veto des amerikanischen Kommissars Herr Siegel wieder alles verlor, machte er seinem Leben ein Ende – er erschoss sich.“ (S.35)

Einquartierungen, Haussuchungen, Gefängnis und Hungersnot

Es sind jetzt unruhige Zeiten auch für die Familie Aue, sie bekommen den ersten Zwangsmieter, einen österreichischen Offizier: „Er hieß Adam Semkiv und stammte aus der österreichischen Ukraine. Er war griechisch-orthodox, aber sogenannter Uniate – die Uniaten erkennen den Papst als Oberhaupt der Kirche an.“ (s.35)

Vermögende Bürger des Landes werden festgesetzt: „Dann erfolgte die erste Arretierung der ‚Burschui‘ – Kaufleute, Landbesitzer, Direktoren usw. Man wollte Geld von ihnen haben, viel Geld. Sie wurden nicht ins Gefängnis gesetzt, sondern in irgendeiner Behörde mit großen Räumen untergebracht aber die Bewachung war ganz human. Viele weigerten sich erst zu zahlen – ich glaube das Minimum, das man zahlen musste, waren 10000 Rubel, aber dann beschlossen sie doch, sich freizukaufen, und als sie gezahlt hatten, wurden sie freigelassen und hatten fürs Erste Ruhe.“ (S.35) Auch wirtschaftlich geht es sehr schlecht in Turkestan, denn es kann jetzt kein Weizen aus Russland importiert werden, da die Bahnverbindung abgebrochen ist. Die Wirtschaft in Turkestan aber war aufgebaut auf Baumwollanbau. Im Frühjahr 1918 beginnt eine große Hungersnot in Turkestan. „In unserem Stadtteil organisierten die Haubesitzer eine Fütterung der Hungernden in unserem Kischlak. Es wurde ein Riesenkessel aufgestellt, in welchem die billigeren Teile des Kuhkörpers gekocht wurden, mit Zwiebeln und Dschugara (eine Riesenhirse). Die Dorfbewohner stellten sich auf an einem Seil entlang und dann wurden die Schalen gefüllt. Diese Fütterung wurde fortgesetzt, bis die süßen Aprikosen und die mehligen Maulbeeren reiften, dann blieben die Hungernden von selbst weg.“ (S.35)

Viele junge Leute, wie z.B. die Estin Ida mit ihrer Freundin, möchten das Land verlassen, aber es geht nicht, weil die Zugverbindung nach Russland unterbrochen ist und eine Flucht über Afghanistan den sicheren Tod bedeuten würde aufgrund der Unwägbarkeit des Landes und seiner Gefahren. In Russland tobt der Kampf an vielen Fronten und in Turkestan verschärfen sich die Auseinandersetzungen zwischen Sowjets und Muselmännern immer mehr, letztere bilden Kampftruppen, die sog. Basmatschi, die in Bergdörfern wohnen und von dort ihre Angriffe starten. Auch Europäer schließen sich ihnen an. Bei den Aues beginnen die ersten Haussuchungen, bei denen alle sichtbaren Schätze, wie z.B. das Silber auf der Tafel, mitgenommen werden. Die Nachbarn informieren sich gegenseitig, wenn Bolschewiken vor der Tür stehen, um Haussuchungen zu machen.

Margarethe Aue erwartet ihr zweites Kind und Alexander wird am 11.Juli 2018 geboren, als Max Aue gerade auf Patrouille ist, die der Selbstschutz organisiert hat.

„Die Armenier, welche Christen waren und sich schlecht vertrugen mit den Mohammedanern, waren schwer bewaffnet und es kamen Zusammenstöße vor. (…)

Ich erinnere mich, dass wir eine Nacht buchstäblich auf unseren gepackten Sachen saßen und auf ein Signal warteten, unser Heim zu verlassen und in die Reichsbank zu gehen. Wir taten es zum Glück nicht und blieben zu Hause. Viele, welche aus Kokand weggefahren waren, haben nichts mehr vorgefunden, als sie zurückkamen.

Viele Männer hatten eine Art Selbstschutz organisiert und patrouillierten in der Nacht zu zweit ihre Straße ab. So auch mein Mann. Es war Reuter, welcher sich ein Pferd und Wagen verschaffte und die Hebamme holte. (…) Als mein Mann um ein Uhr nachts hereinkam, um zu sehen, wie es ging, war unser Schurik schon da.“ (S.37)

Auch die Geschäfte liegen darnieder, aber Max Aue hatte durch Vermittlung des alten Herrn Pletzer Treibriemen in Amerika bestellt, die in den Fabriken gebraucht wurden. Ein Teil kommt noch in Kokand an, aber ein Teil bleibt in Amerika und bildet mit den erzielten Dollars den Grundstock für die spätere Existenz der Aues im Westen. Christine Aue, die schon seit 1915 in Schweden lebt, dient hierbei als Vermittlerin. – Wegen der Kämpfe zwischen Roten und Weißen und nach einem niedergeschlagenen Aufstand der Weißen in Taschkent erfolgt ein Massenarrest und auch Max Aue wird gefangen genommen. „Viel erfuhren wir nicht, nur dass sie in Taschkent im Gefängnis waren. Es vergingen bange Tage, aber ganz unerwartet kamen sie eines Tages alle zurück. Man hatte wohl eingesehen, dass man ihre Kenntnisse und Arbeitskraft brauchte. Sie waren im Gefängnis untergebracht gewesen, in einem großen, heißen Saal. Wer da wollte, durfte draußen arbeiten und das tat mein Mann, um an der Luft zu sein, wenn es auch heiß war. Ich glaube, er sägte und hackte Holz. Ich habe bis heute ein Couvert, auf welchem steht: Geld, das ich im Gefängnis verdient habe.“ (S.38)

Luise Liefländer-Leskinen

Dr. phil. Luise Liefländer- Leskinen ist Germanistin mit langjähriger Tätigkeit als Dozentin für Deutsch an den finnischen Universitäten Oulu, Turku und Ost-Finnland (Joensuu und Savonlinna). Seit 2014 ist sie Vorsitzende des Verbandes der finnisch-deutschen Vereine in Finnland.

Margarethe Aue – Lebenserinnerungen, ed. Luise Liefländer Leskinen, ist in der Veröffentlichungsreihe der Aue-Stiftung im Jahr 2023 erschienen. Das Buch ist hier zu kaufen und hier als pdf-Datei zu lesen.