Dorothee Schulte-Basta: Kulturzentren im Fokus: Ein neues Modell für Finnland und darüber hinaus 

Was macht ein Kulturzentrum aus? Diese scheinbar einfache Frage führt zu erstaunlich vielen Antworten – und genau darin liegt ein Problem. Denn ohne klaren Begriff sind systematische Forschung, vergleichende Analyse oder gezielte kulturpolitische Förderung nur schwer möglich. Insbesondere für den ländlichen Raum mit oft eingeschränkter kultureller Infrastruktur ist eine präzise Definition essenziell, um bestehende Angebote zu erfassen, Bedarfe zu identifizieren und kulturpolitische Maßnahmen gezielt auszurichten. Ein von der Aue-Stiftung gefördertes Promotionsprojekt untersucht Kulturzentren in Finnland und Deutschland mit dem Ziel, eine klarere Typologie zu entwickeln und ihre gesellschaftliche Wirkung zu analysieren. 

Kulturzentrum – ein vieldeutiger Begriff   

Während Museen oder Theater klar definierte Institutionen sind, bleibt der Begriff ‚Kulturzentrum‘ erstaunlich unscharf – insbesondere im internationalen Vergleich. Die begriffliche Bestimmung stellt insbesondere aus zwei Gründen eine besondere Herausforderung dar: Zum einen ist der Kulturbegriff selbst vielschichtig, was eine klare Definition erschwert. Zum anderen sind Kulturzentren äußerst heterogen – sie unterscheiden sich stark in ihren Programmen, Zielsetzungen, Trägerstrukturen und finanziellen Ressourcen. Einige Kulturzentren verstehen sich als Orte aktiver künstlerischer Produktion, andere primär als Veranstaltungsorte oder Begegnungsstätten.  

Historische Entwicklung von Kulturzentren in Europa 

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in vielen europäischen Ländern der kulturelle Sektor als Teil des wachsenden Wohlfahrtsstaates gefördert. Dies führte zu einer verstärkten staatlichen Kulturförderung. Die Entwicklung von Kulturzentren in Europa spiegelt demzufolge die historischen, politischen und sozioökonomischen Rahmenbedingungen der einzelnen Länder wider. Dennoch lassen sich zwei übergreifende Phasen identifizieren. 

1. 1970er & 1980er: Zivilgesellschaftliche Kulturbewegungen und Soziokultur 

In Westeuropa entstanden in den 1970er und 1980er Jahren zahlreiche private Kulturzentren, die aus den zivilgesellschaftlichen Kulturbewegungen der 1960er Jahre hervorgingen. In Deutschland waren diese eng mit Demokratisierungsdebatten verknüpft und inspirierten neue Formate in der Kultur- und Bildungspolitik. Die Soziokultur gewann an Bedeutung und förderte kulturelle Teilhabe, soziale Innovation und urbane Entwicklung. 

2. Nach 1990: Neuausrichtung der Kulturpolitik in Osteuropa 

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion standen viele osteuropäische Staaten vor der Herausforderung, ihre Kulturpolitik neu zu gestalten. Während zuvor staatlich gelenkte Kulturangebote dominierten, setzten Länder wie Litauen, Lettland und Bulgarien verstärkt auf Maßnahmen zur Förderung kultureller Teilhabe und zur Stärkung der Zivilgesellschaft. 

Starke Tradition: 50 Jahre Soziokultur in Deutschland 

Heute blickt man in Deutschland auf eine 50-jährige Tradition der Soziokultur und entsprechender Zentren zurück. Soziokulturelle Zentren sind Häuser und Begegnungsstätten, die – generationenübergreifende und interkulturelle – Kulturprogramme und Angebote im Bereich Musik, Theater, Kunst, Kunsthandwerk, Film etc. anbieten. Soziokulturelle Zentren dienen der Förderung kreativer Eigentätigkeit und kultureller Kompetenz. Sie spielen eine entscheidende Rolle in der kulturellen Infrastruktur: erleichtern den Zugang zu Kunst und Kultur, regen kreative Prozesse an und fördern soziale Teilhabe. Sie bieten Raum für künstlerische Experimente, gesellschaftlichen Dialog und gemeinschaftliche Initiativen. Soziokulturelle Zentren sind nicht zuletzt dank der Enquete-Kommission Kultur in Deutschland aus dem Jahr 2007 klar definiert und gut erfasst.  

Kulturzentren in Finnland: Vielfalt ohne klare Definition 

In Finnland, wo es weder die 50-jährige Tradition der Soziokultur noch eine einheitliche Definition des Begriffs ‚Kulturzentrum‘ gibt, wurde insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren mit der Einrichtung von Mehrzweck-Kulturzentren begonnen. Diese Entwicklung war teilweise durch die kulturelle Demokratisierungsbewegung beeinflusst, die das Ziel verfolgte, kulturelle Angebote breiter zugänglich zu machen. Die Gründung von Zentren wie Stoa (1984), Kanneltalo (1992) und Malmitalo (1994) markierte den Beginn einer systematischen Kulturpolitik, die darauf abzielte, kulturelle Angebote in Wohnvierteln und für eine diversifizierte Gesellschaft bereitzustellen. Trotz dieser Bemühungen blieb der Begriff ‚Kulturzentrum‘ unscharf definiert, was zu einer breiten und heterogenen Landschaft an Einrichtungen führte. 

Heute existiert eine Vielzahl von Einrichtungen, die sich des Begriffes bedienen – von kreativen Produktionsräumen, kulturellen Bildungseinrichtungen über Veranstaltungsorte bis hin zu historischen Gutshäusern. Verschiedene Bezeichnungen wie kulttuurikeskus, kulttuuritalo oder auf Schwedisch kulturhus und konsthus nutzen oft ein und denselben Ausdruck für unterschiedliche Konzepte. Trotz dieser Unschärfe bietet Statistics Finland eine Datensammlung, die eine systematische Analyse ermöglicht. Dies macht Finnland zu einem spannendem Untersuchungsfeld, da es sowohl über umfangreiche Daten als auch über eine offene Definition des Kulturzentrumsbegriffs verfügt. Die vorhandene Statistik liefert eine empirische Basis, während die begriffliche Offenheit eine theoretische Präzisierung ermöglicht – beides zusammen erlaubt ganz praktische Antworten auf die Frage, welche Strukturen tatsächlich künstlerische Produktion, kulturelle Teilhabe und soziale Begegnung fördern. 

Ein neuer methodischer Ansatz zur Unterscheidung von Kulturzentren                 

Um inmitten der Vielfalt von Einrichtungen die wesentlichen Merkmale des Konzepts Kulturzentrum zu erfassen, wendet das hier vorgestellte Promotionsprojekt in seiner ersten Studie die Walker & Avant-Methode der Konzeptanalyse an, eine systematische Vorgehensweise zur Klärung und Definition von Konzepten, insbesondere in den Gesundheits- und Sozialwissenschaften. Auf Basis einschlägiger Fachliteratur dient die Methode dazu, unklare oder mehrdeutige Konzepte zu analysieren, zu definieren und ihre Merkmale zu präzisieren – wichtig, um sowohl in der Forschung als auch in der Praxis ein gemeinsames Verständnis eines Begriffs zu schaffen und ihn operationalisierbar zu machen. Diese Form der Konzeptanalyse ist daher besonders nützlich für die Entwicklung theoretischer Modelle und die Verbesserung der praktischen Anwendung von Konzepten in Forschung und Praxis. 

Angewandt auf das Konzept Kulturzentrum ergibt die Analyse vier Schüsselkriterien: 

  1. Kulturzentren als Anbieter und Produzenten – Sie schaffen nicht nur kulturelle Inhalte, sondern gestalten aktiv Programme. 
  1. Erlebnis und Partizipation – Kulturzentren ermöglichen nicht nur passiven Kunstgenuss, sondern fördern aktive Mitgestaltung. 
  1. Vielfalt und Multidisziplinarität – Kulturzentren vereinen verschiedene Kunstformen und sprechen diverse Zielgruppen an. 
  1. Interaktion und Gemeinschaftsorientierung – Sie fördern Austausch und verankern sich lokal. 

Um diese Schlüsselkriterien praktisch erfassbar zu machen, identifiziert die Studie klare Indikatoren, die deren Vorhandensein belegen. Ein Beispiel: Für das Kriterium „Anbieter und Produzent” ist essenziell, dass a) tatsächlich ein Kulturprogramm angeboten wird, und b) zumindest ein Teil des angebotenen Programms selbst produziert ist. Dies zeigt sich in der Praxis z.B. durch a) einen Veranstaltungskalender, der b) auch eigene Produktionen aufweist. Für jedes der vier Kriterien liefert die Studie messbare Indikatoren, die die theoretischen Schlüsselkriterien praktisch erfassbar machen. Das Ergebnis ist eine Checkliste, mit der die Internetauftritte und/oder Facebookeinträge der jeweiligen Einrichtungen untersucht werden und anhand derer die Anzahl der vorhandenen Schlüsselkriterien festgestellt werden kann.  

Eine neue Typologie finnischer Kulturzentren 

Die Studie wendet diese neue Methodik auf die Landschaft der Kulturzentren in Finnland an. Mithilfe der Checkliste wurden alle 319 Einträge der Statistik Suomen kulttuuritaloja ja kulttuurikeskuksia maakunnittain 2023 daraufhin überprüft, ob sie die vier zentralen Kriterien erfüllen, basierend auf offiziellen Webseiten und – falls vorhanden – Facebook-Seiten. Anschließend wurden die Einträge nach ihren Gemeinsamkeiten gruppiert und Einrichtungen mit übereinstimmenden zentralen Merkmalen in Kategorien zusammengefasst, wodurch sich verschiedene Typen von Kulturzentren identifizieren ließen. 

Das Ergebnis ist eine neue Typologie, die die Vielfalt finnischer Kulturzentren differenzierter abbildet. Sie zeigt, dass nur etwa 20 % der untersuchten Einrichtungen alle vier Merkmale erfüllen – darunter die städtischen Vorreiter Stoa, Kanneltalo und Malmitalo. Andere Einrichtungen spezialisieren sich auf bestimmte Aspekte, etwa Zielgruppenorientierung, Veranstaltungsbetrieb oder kreative Produktion. 

Relevanz für Finnland und darüber hinaus 

Die Studie macht deutlich, wie uneinheitlich der Begriff ‚Kulturzentrum‘ genutzt wird, und schafft mit ihrer neuen Typologie eine fundierte Grundlage für Forschung und Kulturpolitik. Sie ermöglicht eine differenzierte Betrachtung finnischer Kulturzentren und bietet konkrete Anhaltspunkte für eine gezieltere Förderung, auch in zweisprachigen und kulturell vielfältigen Regionen. 

Die entwickelte Typologie ist nicht nur für Finnland relevant, sondern international anwendbar. Sie bietet ein Modell zur vergleichenden Analyse von Kulturzentren in unterschiedlichen Kontexten und verdeutlicht die Notwendigkeit präziserer statistischer Erfassungen und strategischer Förderansätze. Dies ist besonders bedeutsam für die Frage, wie sich Kultur passgenau auch in strukturschwachen Regionen fördern lässt. Die Ergebnisse liefern somit auch Impulse für europäische Kulturpolitiken, die sich verstärkt mit Themen wie kultureller Teilhabe, Diversität und regionaler Infrastruktur beschäftigen. 

Weiterführende Links 

Suomen kulttuuritaloja ja kulttuurikeskuksia maakunnittain 2023 | Schlussbericht der Enquête-Kommision Kultur in Deutschland 

Dorothee Schulte-Basta 

Dorothee Schulte-Basta ist Doktorandin an der Åbo Akademi in Vasaa, Finnland. Ihre beruflichen Stationen in Berlin umfassten Tätigkeiten als wissenschaftliche Mitarbeiterin eines Bundestagsabgeordneten und Referatsleiterin Sozialpolitik der Heinrich-Böll-Stiftung. Gemeinsam mit ihrem Partner betreibt sie im ländlichen Vörå (Vöyri), Finnland ein lokales Kulturzentrum: www.abrams.fi