Luise Liefländer-Leskinen: Margarethe Aue – von Riga über Moskau, Kokand und Tallinn nach Helsinki (2/2)

Geschichte einer Kosmopolitin vor hundert Jahren… Teil 2

Neue Geschäfte und Herausforderungen

Max Aue versuchte sich nun als Lederfabrikant, denn Lederstiefel wurden gebraucht: “Für meinen Mann galt es nun, ein neues Arbeitsfeld zu finden, und zwar am liebsten eines, welches für die Verwaltung notwendig und wichtig war. Nun gab es keine Schuhe und Stiefel mehr zu kaufen. Mein Mann wusste, dass es in Samarkand Lederspezialisten gab, und zwar Deutsche. Er beschloss in Zusammenarbeit mit einem guten Bekannten, einem Schweizer, eine Ledergerberei und Stiefelfabrikation zu starten. Der Sownarchos (Wirtschaftsrat von Kokand), dessen Vorsitzender ein anständiger Mann war, gab meinem Mann Papiere an den Wirtschaftsrat von Samarkand und mein Mann fuhr nach Samarkand, um die Deutschen zu holen.“ (S.38)

Auch das Zugfahren gestaltete sich abenteuerlich in dieser Zeit: „Es gab damals keinen regelmäßigen Zugverkehr, man musste erfahren, wann ein Zug abgehen sollte und sich einen Platz erkämpfen. Diesmal fuhr mein Mann unter einer Bank liegend nach Samarkand. Aber er brachte die Deutschen tatsächlich mit.“ (S.38)

Familie Ungefucht, wie die Deutschen hießen, bestand aus zwei Brüdern mit ihren Frauen, der Mutter und einer Schwester. Sie sprechen ein Gemisch aus Schwäbisch und Russisch, das anfangs schwer zu verstehen ist. Sie alle müssen nun untergebracht werden.“ Wir nahmen den jüngeren Bruder mit Frau, Mutter und Schwester zu uns. In unserem Vorzimmer wurde ein Herd aufgestellt, das junge Paar bekam unser Wohnzimmer, wo Adam Semkow gewohnt hatte. Mutter und Schwester bekamen meiner Mutter Zimmer, diese zog ins Kinderzimmer.“ (S.38) Max Aue und seine Mitarbeiter mieteten am Rande des Dorfes passende Lehmgebäude, kauften Pferde und Wagen und beschafften Tierhäute und so konnte die Ledergerberei und Stiefelproduktion beginnen.

Nun stand eine neue Mobilisation bevor, denn die Sowjets brauchten mehr Soldaten im Kampf gegen die Basmatschi. Max Aue entgeht dieser, denn er lässt sich von einem alten Militärarzt mit bösem Hautausschlag ins Krankenhaus überweisen. „An einem Sonntag kam er heimlich zu Besuch nach Hause. Als Schurik den lang vermissten Papa sah, ließ er meine Hand los und ging die ersten unsicheren Schritte dem Papa entgegen. Er war damals neun Monate alt.“ (S.39)

Auch der Sommer 1919 war wieder sehr heiß und da die Familie Aue nun in Kokand bleiben musste, erkrankte der kleine Alexander an der Sommerdarmkrankheit und überlebt diese mit Mühe und Not. „Wieder hatten wir Ursache, glücklich und dankbar zu sein, dass unser Kind uns erhalten blieb. Nicht weniger glücklich war meine Mutter, deren ganzer Lebensinhalt sich jetzt in dem Kind konzentrierte.“ (S.39) Die Taufe von Alexander, genannt Schurik, fand im Herbst 1919 in Kokand statt: „Im Herbst 1919 wurde bei Ungefuchts ein Kind geboren, und zwei Monate später kam der Pastor aus Taschkent. Er traute zwei Paare Ungefucht, er taufte deren und auch andere Kinder, und er taufte auch unseren Schurik. Unser Täufling ging an meiner Hand dem Pastor entgegen.“ (S.39)

In diesem Herbst 1919 wurde auch endlich die Bahnlinie nach Russland wiederhergestellt, denn die Kämpfe waren größtenteils beendet. Familie Aue erhielt seit langem wieder Nachrichten aus Archangelsk und Moskau und erfuhr, dass ein Bruder von Max Aue, der als Maschineningenieur in der Waffenindustrie gearbeitet hatte, gestorben war.“ Er hatte sehr angestrengt gearbeitet, dabei gehungert, mit dem Resultat, dass er die sogenannte galoppierende Schwindsucht bekam und starb. Es war ein sehr schwerer Kummer für die ganze Familie. Die Witwe, deren Vater Schweizer war, ging mit ihren drei Kindern in die Schweiz und die Kinder sind als Schweizer aufgewachsen. Der älteste Sohn sagte später ‚Papa hat uns durch seinen Tod gerettet‘, und das stimmte.“ (S.39)

Alltag in Kriegsjahren

Da der Zug nach Russland wieder fuhr, verlassen nun die Hausgehilfin Ida und Jacob Reuter Kokand. Ida und ihre Freundin bringen den Aues in Moskau als Geschenk eine halbe Gans mit und Jacob Reuter sogar ein Fässchen Butter, ein sehr wertvolles Geschenk in dieser Zeit.: „Die (Butter)hatte mein Mann gegen sein Gewehr eingetauscht, Waffen mussten abgeliefert werden, auf heimlichen Besitz von Waffen stand Todesstrafe. Wir hatten hinten auf dem Hof eine Waschküche, deren Dach über die Lehmmauer des Nachbargrundstücks hinüberhing. Dort auf der Mauer hatte das Gewehr lange gelegen und konnte nun gegen Butter eingetauscht werden bei den Einheimischen, welche Bewaffnung brauchten.“ (S.40)

Margarethe Aue musste nun selbst die beiden Kühe melken, denn nur ein sechzehnjähriger Sarden – Junge, Ulmas, steht noch als Helfer im Haushalt zur Verfügung. Das war nicht immer ganz einfach bei der einen widerspenstigen Kuh: „Wenn ich sie melken wollte, band Ulmas ihr erst den Schwanz an ein Hinterbein, dann band er die Hörner an die Krippe und setzte sich mit einem Stecken in der Hand vor sie hin, dann konnte ich sie melken. Trotzdem geriet sie manchmal mit einem Hinterbein in den Milcheimer.“ (S. 40)

Als 1919 Admiral Koltschak endgültig besiegt worden war, kam ein Teil der Truppen aus Sibirien nach Turkestan, wo weiter gegen die Basmatschi gekämpft wurde.

Das bedeutete für Familie Aue wiederum Einquartierung, drei Soldaten werden im Kinderzimmer untergebracht, die Mutter von Margarethe zieht ins Schlafzimmer und der Rest der Familie schläft zu viert im Speisezimmer, das durch zwei große Schränke aufgeteilt wird. Aber auch dieser Situation gewinnt Margarethe etwas Gutes ab, denn sie betont, dass „unsere Soldaten“ nicht ungebildet waren. Sie wurden gleich in die Familie integriert: “Der eine war Student an einer Technischen Hochschule, der andere war Maler und schenkte uns ein hübsches Aquarell von unserem Kischlak. Dieser Maler war zu Weinachten unser Weihnachtsmann mit Kapuze und Bart und einem Sack voller Äpfel und Nüsse über der Schulter. Nun sollten die Knaben Verschen aufsagen, Fedja konnte das ohne Weiteres, aber Schurik, der sehr schüchtern war, hatte sich hinter meinem Rücken versteckt und flüsterte mir zu: ‚Mama, das ist doch unser Soldat.‘ Aber auch er bekam seine Äpfel und Nüsse.“ (S.40) Auch beim Kneten des Weihnachtsbrotteiges halfen die Soldaten und bekamen ihren Anteil davon.

„Unser Weihnachtsbaum war, wie auch die Jahre vorher, künstlich: in einen Stock bohrte mein Mann Löcher und in diese Löcher wurden Tujazweige gesteckt, oben kleine und nach unten hin immer größere. Als Geschenke gab es Bauklötze, die ein geschickter Österreicher angefertigt hatte. So erlebten wir Weihnacht 1919 und Sylvester 1920.“ (S.41)

Im Jahre 1920 wurde der Emir von Buchara endgültig besiegt und das hatte zur Folge, dass die Sieger zurück nach Turkestan kamen. Immer höhere Militärs werden jetzt bei den Aues einquartiert, denn ihr Haus hatte eine funktionierende Wasserleitung und war auch sonst in gutem Zustand. D.h. die Soldaten und Familie Ungefucht mussten nun das Haus verlassen und diesen Kommissaren den Platz überlassen. Einer davon, eigentlich Gutsbesitzer aus Smolensk, kam mit Schwester, Sekretärin, deren Mann und einem Burschen, er war überzeugter Kommunist. „Sie lebten sehr spartanisch, das hatte ihn aber nicht daran gehindert, zwei schöne Pferde aus dem Stall des Emirs und einen schönen Teppich mitzubringen. Unsere Kühe wurden aus dem Kuhstall auf den Hof verwiesen, wo sie an Bäume angebunden standen, und die Pferde standen im Stall.“ (S.41) Da es draußen warm war, war es eigentlich kein Problem – nur die bösartige Kuh machte wieder Schwierigkeiten: „Schlimmer war es, dass unsere böse Kuh sich in einer Nacht losriss und der anderen Kuh mit ihren spitzen Hörnern die Rippen aufschlitzte und ihr außerdem so starke Stöße unters Euter versetzte, dass dieses dick aufschwoll und keine Milch gab. Man riet uns stark erhitzte Ziegelsteine in einen Eimer mit heißem Wasser zu tun und diesen unter das Euter zu stellen. Dann wurde die Kuh mit einer Pferdedecke bedeckt, so dass der Dampf wirken konnte. Die Behandlung half wirklich. Wir mussten nun aufpassen, dass die böse Kuh richtig fest angebunden war.“ (S.41)

Die Pferde des Emirs aber standen auf dem Silber der Familie Aue, das im Stall vergraben war. Nur Margarethe und ihr Mann wussten davon, wie auch von den Geheimfächern im Sekretär, genannt „Rotholzbüro“, der von ihrem Vater stammte. „Wir haben entsetzliche Angst ausgestanden, als bei einer der Haussuchungen gerade dieses Büro genau untersucht wurde, und zwar suchten sie wohl gerade geheime Verstecke, aber diese Schreinerarbeit war so fein, dass sie nichts fanden, weder meinen Schmuck noch Papiere. Auf solches Verstecken von Wertgegenständen stand Todesstrafe.“ (S.41)

Margarethe berichtet in diesem Zusammenhang von einer erschütternden Tragödie bei zwei griechischen Familien, den reichen Seidenzüchtern Mandala. Einer von ihnen hatte sich schon das Leben genommen, weil er die Ängste und ständigen Haussuchungen nicht mehr ertragen konnte. „Er hatte eine schöne Frau, auch Griechin, mit Namen Athene, und zwei Kinder. Als die Sowjets immer mehr Geld brauchten für ihren Kampf gegen die Basmatschi, wurde die Frau arretiert und der Untersuchungsrichter versprach, ihr zu helfen und wenigstens einen Teil ihres Schmuckes zu retten, falls sie ihm sagte, wo er versteckt sei.“ (S.42) Er verstand es, das Vertrauen der Frau zu gewinnen und sie verriet ihm schließlich, dass der Schmuck in den Töpfen der Palmen im Wintergarten versteckt war. Sie wurde aber danach einfach zusammen mit anderen Gefangenen zum Friedhof gefahren und dort erschossen: „Die Schwestern von Athene, die zum Glück gerade aus Ankara zu Besuch bei ihr weilten, fanden auf dem Friedhof ihre Kämme. Diese Schwestern nahmen dann die beiden Kinder mit, als sie in Begleitung von zwei Österreichern zurück nach Kleinasien fuhren. Dieser Vorfall hat uns wohl sehr erschüttert.“ (S.42) Auch Max Aue wollte sein Gold loswerden. „Mein Mann ruhte nicht, bevor er ein Stück reinen Goldes, das er schon lange besaß, eintauschen konnte gegen ein viel weniger wertvolles Porte-Cigarres, allerdings aus Gold, aber nicht aus ganz reinem.“ (S.42)

Ein Visum für Estland – Kultur und Sitten im damaligen Turkestan

Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen konnten jetzt ihre Unabhängigkeit erklären und in Moskau Konsulate eröffnen und da Max Aue in Estland geboren war und dieses auch durch seinen Taufschein beweisen konnte, erhielt er einen estnischen Pass. „Von dem Moment an, als wir den estnischen Pass in Händen hatten, wurden wir in Ruhe gelassen – keine Haussuchungen mehr.“ (S.42) Zuvor waren viele Bücher, die dann in die Volksbibliothek gebracht wurden, mitgenommen worden. Zwei chinesische Vasen konnten auf das Flehen der Mutter Margarethes hin gerettet werden. „Mein Vater hatte, als Leiter der Teeabteilung der Firma Knoop in Moskau viel mit China zu tun gehabt und besaß darum mehrere wertvolle chinesische Sachen, so auch diese Vasen. Die sollten nun als Volksgut ins Museum und wurden herausgetragen.“ (S.43) Da aber die Mutter herzzerreißend weint, bekommt sie ihre Vasen wieder. Auch der auf dem Dachboden versteckte Zucker wurde konfisziert. „Merkwürdigerweise bekamen wir, als wir keinen Zucker mehr hatten, Geschwüre, alle der Reihe nach, bis auf den kleinen Schurik. Meine Mutter hatte ihren eigenen gespart und buk nun Biskuitplätzchen für Schurik, hin und wieder bekam auch Fedja ein Stückchen.“ (S.43)

Familie Aue plante nun die Ausreise nach Estland und ist mit dem Verkauf ihres Eigentums beschäftigt. „Theoretisch hätten wir schon im Jahre 1920 wegreisen können, aber die Vorbereitungen und das Liquidieren nahmen ein ganzes Jahr in Anspruch.“ (S.43) Sie verkaufen ihr Porzellan und schönes Kristall und ein Usbeke, ein Mohammedaner und eine Jüdin kaufen eifrig die angebotenen Waren. Aber die Jüdin zögerte das Bezahlen heraus und erst direkt vor der Abreise gelang es Margarethe, das Geld zu bekommen. Dafür musste sie ihr mit Meldung bei der Sicherheitspolizei drohen, um endlich die Bezahlung zu erhalten.

Sardische, handgewebte Seide aber kaufte Margarethe, um sie mitzunehmen. „Die Sarden hatten ihre eigene Seidenzucht im Dorfe. Maulbeerbäume, deren Blätter den Larven des Seidenspinners als Futter dienen, gab es ja überall. Einmal sah ich einem Hofe im Dorf, wie Frauen die Kokons, in welche die Larven sich einspinnen, in Kessel mit kochendem Wasser warfen, um die Larven zu töten. dann fischten sie mit dünnen Stäben die Enden der Seidenfäden heraus und spulten die Fäden auf ein Rad. Aus diesen Seidenfäden webten sie auf schmalen Handwebstühlen ihre Seide, die sie dann auch färbten.“ (S.44)

Auch eine Opiumhöhle lernte Margarethe noch kennen: „Bei einem meiner Besuche in der Altstadt führte mein Mann mich in eine sogenannte Opiumhöhle. Es war recht dunkel da drinnen und nur einige Öllampen brannten, und überall saßen schweigende Gestalten, die nur hin und wieder einen Zug aus der Opiumpfeife taten, oder auch nicht, wenn sie schon genug hatten. Für Fremde, wie wir, hatten diese Menschen gar kein Interesse. Sie waren ganz entrückt und starrten mit glasigem Blick vor sich hin oder ins Weite.“ (S.44)

Die Produktion in der Lederwerkstatt hatte Max Aue inzwischen aufgeben müssen, denn die Basmatschi hatten die Werkstatt überfallen und alles Brauchbare mitgenommen: „Eine große Schar berittener Basmatschi war angebraust, hatte alle Pferde, alle Wagen, d.h. die großrädrigen Arbas, alles Leder und alle fertigen Stiefel mitgenommen und war davongeritten.“ (S.44)

Max Aue richtete nun eine Töpferei und Geschirrwerkstatt in der Altstadt von Kokand ein, denn es konnte kein Teegeschirr mehr aus Russland importiert werden und nun mangelt es an Teekannen, Teetassen etc. „Mein Mann fand in der Altstadt eine passende Werkstatt, wo man Drehscheiben aufstellen konnte. Auch die nötigen Spezialisten, zwei ältere, würdige Usbeken, hatte er geworben – die waren ja die Grundbedingung für diese Gründung. Nun wurden die Drehscheiben aufgestellt, der nötige Lehm und die Farben beschafft, und nun konnte also auch dieser Betrieb anfangen zu arbeiten. Das war für den Wirtschaftsrat sehr willkommen, und sie unterstützten meinen Mann natürlich auf jede Weise.“ (S.44)

Eine Episode, die die Rolle der Frau im damaligen Turkestan beleuchtet, und in der Margarethe als Heiratsvermittlerin fungiert, soll im Folgenden erzählt werden. Sie berichtet, dass „unserem Chaidar-Ali“, ein Usbeke, der Max Aues Grundstück am Rande des nächsten Dorfes bewirtschaftete und dafür die Hälfte des Ertrages, z.B. Weizen und Baumwolle, bekam, die Frau weggelaufen war. Nun sollte Margarethe Aue zusammen mit einer Frau Hoyer, die gut Usbekisch sprach, ihm eine andere Frau suchen. „Als Führer wurde uns ein 14 – jähriger Sardenjunge mitgegeben, der wusste, wo die Heiratskandidatinnen wohnten. Er durfte sie sehen, weil er noch Knabe war. Die Erste gefiel uns nicht – sie sah blass und kränklich aus – war scheu und schweigsam und konnte keinerlei Fertigkeiten vorweisen. An die Zweite habe ich keine Erinnerungen, aber die Dritte gefiel uns sehr. Sie sah gesund aus, stand uns Rede und Antwort, konnte guten Plow zubereiten und zeigte uns die schönen Tjubeteiki (Mützchen), die sie machte, welche alle, Männer, Frauen und Kinder tragen. Das war damals keine leichte Arbeit, sie wurden versteift durch Papierröllchen, die zwischen Seidenstoff und Futter vom Rande zur Mitte hin mit der Maschine hineingesteppt wurden – ein Röllchen, eine Naht, ein Röllchen, eine Naht usw. Außerdem wurden diese Mützchen sehr reich verziert mit hübschen Stickereien in schönen Farben. Die meisten Frauen im Dorf besaßen Nähmaschinen, die Singer auf Abzahlung, ein Rubel pro Monat, verkaufte.“ (S.45)

Diese Frau empfahlen Margarethe und Frau Hoyer Chaidar-Ali, aber sie war zu teuer und er nahm die erste Frau, die billiger war. Aber auch diese lief ihm nach einiger Zeit wieder davon, denn er hatte sie schlecht behandelt. „Als sie aber zu ihrem Vater zurückkam, wollte dieser sie nicht zurücknehmen, denn er sagte, es sei alles bezahlt und nun müsse sie bei ihrem Manne bleiben. Ich erinnere mich nicht, wie dieses sehr gewöhnliche kleine Drama endete, aber ich erinnere mich gut, dass eine der Frauen von Chaidar-Ali, wahrscheinlich die erste, zu mir kam und mir die Spuren seiner Schläge an ihrem Körper zeigte.“ (S.45) Margarethe fühlte sich hilflos in dieser Situation, sie konnte nur versuchen, mit den Beteiligten zu reden, wobei der Erfolg ungewiss war.  Sie kommentiert: „Ich kann nur wiederholen, dass die Befreiung der Frau durch die Sowjetunion eine notwendige Tat war.“ (S.45) Dennoch betont sie, dass Chaidar-Ali eine wichtige Person in ihrem Kokander Leben war, und er hing mit großer Anhänglichkeit an Max Aue. „Ich erinnere mich deutlich, wie er von uns Abschied nahm, als wir wegfahren sollten. Ich sah ihm nach, er ging ganz langsam und mit hängenden Schultern, man sah ihm seinen Kummer an.“ (S.45)

Auch andere, alltägliche Probleme gab es im Leben der Aues jetzt, wie z.B. der Kampf gegen Ungeziefer, das durch die Zwangsmieter mitgebracht wurde. Es gab Wanzen in den Betten und auch winziges Ungeziefer im Reis, das durch Ausbreitung auf einem Tisch in der heißen Sonne vernichtet werden konnte. Auch die Hühner hatten Ungeziefer, das ihre Haut durchfraß, aber durch Einreiben mit Petroleum konnte mindestens ein Teil von ihnen gerettet werden.

Immer mehr Freunde der Aues reisten ab, mit einem am offenen Feuer zubereiteten Plow und selbstgebranntem Pfirsichschnaps wurde im Garten Abschied gefeiert. Der Erfindungsgeist der Aues ist wieder gefragt, denn es gibt keine Elektrizität: „Unsere Beleuchtung war sehr originell. (…) Wir füllten unsere Pokale mit Baumwollöl, drehten Dochte aus Watte und zogen die Dochte durch die Öffnungen von den Porzellanknöpfen, durch welche damals die elektrischen Leitungen gezogen wurden, die an den Fußböden und an den Wänden entlang offen liefen. Diese Knöpfe wurden mit Draht umwunden und die Enden des Drahtes auf den Rand der Weingläser gelegt. Der Docht sog sich voll und gab ein schönes Flämmchen.“ (S.46)

Da der letzte Winter 1920/21 sehr kalt war, musste mit Saksaul, einem Strauch, der in der Wüste wächst und gute Hitze entwickelt, und Briketts aus Schalen der Baumwollsamen geheizt werden. Der kleine Schurik hustete viel und als Margarethe in einer kalten Nacht aufstand, um ihm heiße Milch zu holen, sagt der Zweieinhalbjährige zu seinem Vater: „‘Papa, gib Mama deinen Schlafrock. Es ist kalt.‘ Dieser Schlafrock war nämlich sehr warm – aus einheimischer Seide und wattiert. Diese Äußerung des kleinen Kerlchens machte Eindruck auf mich,“ (S.47) kommentiert Margarethe.

Abreise aus Kokand und letzte Vorbereitungen

Nun mussten die Aues Verwalter für ihr Haus finden, denn obwohl das Grundstück enteignet worden war, gehörte das Haus noch Margarethe Aue. Eine gute Bekannte, eine Witwe mit zwei Kindern, verwaltete das Haus einige Jahre lang und verkaufte es schließlich in ihrem Auftrag. Da das Geld in Russland bleiben musste, wurde es an den jüngsten Bruder von Max Aue überwiesen, der gerade in Moskau ein Haus gebaut hatte, und es reichte gerade für den Zaun um das Grundstück herum.

„Zu unseren Reisevorbereitungen gehörten verschiedene Impfungen – gegen Cholera, gegen Unterleibstyphus, gegen Fleck- Typhus, der damals oft vorkam, vielfach mit tödlichem Ausgang.“ (S.47) Auch für ausreichend Proviant für die lange Reise nach Estland musste gesorgt werden. 1921 war ein großes Hungerjahr in Russland, aber in Turkestan gab es Weizen, denn in der Zeit, als das Land von Russland abgeschnitten war, hatte man weniger Baumwolle und stattdessen Weizen angebaut. Also begann Margarethe viel Brot zu backen, das dann in haltbaren Zwieback verwandelt wurde. „Um Brot zu backen, muss man Hefe haben, aber die gab es nicht zu kaufen, man musste sie auch selbst herstellen. Aus Hopfen, Rosinen und Mehl wurde ein Teig gemacht, den man ordentlich gären ließ, danach wurde er in Kleie gerollt und getrocknet und ergab eine ganz effektive Hefe.“ (S.47) Außerdem hatte Max Aue usbekische Fettschwanzschafe gekauft, deren Schwänze aus reinem Fett bestehen und ca. 1,5 – 2 kg wiegen können. Margarethe beschreibt die Zubereitung dieses sehr wichtigen Proviants: „Kurz vor unserer Abreise berief mein Mann zwei Mekka – Fahrer zu uns, die sich auf Zubereitung von Wegkost für lange Reisen verstanden. Sie schlachteten die Schafe, zerlegten das ganze Fleisch mit Knochen in Stücke, und diese Stücke wurden dann in einem großen Gefäß auf offenem Feuer im Garten in dem Schwanzfett mit Zwiebeln und Salz gekocht, und zwar stundenlang. Dieses große Gefäß mit Schaffleisch, nebst dem Zwieback und getrocknetem Obst hat nicht nur uns während der Reise ernährt, sondern auch unseren Verwandten in Moskau sehr geholfen.“ (S.48)

Langsam näherte sich der Tag der Abreise, der 11. August 1921, an dem der Zug von Kokand mit einem Sammeltransport für alle, die das Land noch verlassen wollten, abfahren sollte. Einen Monat vorher, am 11.Juli wurde Schura (Alexander) drei Jahre alt und Margarethe beschreibt, wie dieser Kindergeburtstag gefeiert wurde.

„Mit einer Gruppe von Kindern und einem Korb mit selbstgebackenem Kringel und Saft gingen wir auf die Namanganka, d.h. zu der Bahn, die nach Namangan führte. Es gab ja damals kaum Zugverkehr und kein Beamter war zu sehen, dafür stand auf den Schienen eine unbenutzte Draisine, d.h. eine Plattform auf Rädern, die sich mit einem Hebel, den man hin- und her bewegte, fortbewegen ließ.“ (S.49) Sie beschreibt, wie die Kinder sich köstlich amüsierten beim Fahren auf der Draisine, wobei man sich zwischendurch mit Saft und Kringel stärkte.

Max Aue desinfizierte nun den Güterwagen, mit dem die Familie reisen will, mit einem Schlauch und heißem Dampf von einer Lokomotive. Auf halber Höhe wurden Plattformen eingebaut, dort schliefen die vier Aues auf Matratzen. Darunter war das Gepäck verstaut. Die Mutter Margarethes konnte nur liegend reisen, weil sie sehr geschwollene Beine hatte, und für sie wurde ein Bett an der Wand unten neben der Tür bereitgestellt, sowie ein Klappstuhl auf Stangen, so dass dieser getragen werden konnte. Obwohl schon Aufregung herrschte, als Margarethe mit ihrer Mutter etwas später eintraf, ging der Zug noch lange nicht ab, sondern stand noch die ganze Nacht da. Noch ein schockierendes Erlebnis hatte Margarethe vor der Abfahrt. „Als ich am nächsten Morgen zum Markt ging, um Milch für die Kinder zu kaufen, kam ein Zug langsam angefahren und ich sah, wie ein Mann sich vor dem vordersten Rade auf die Schienen legte. Alle Räder gingen dann über ihn hinweg, und als der ganze Zug vorbei war, lag er dort unbeweglich. Das war der Auftakt zu unserer Reise.“ (S.50)

Von Seiten der Bahnverwaltung wurde noch Brot an die Reisenden verteilt, die Aues bekamen immerhin drei Roggenbrote. „Die zerschnitten wir und trockneten die Scheiben in der Sonne auf dem Dach. Diesen Zwieback haben wir dann unterwegs auf den Stationen an die Hungernden verteilt.“ (S.50) Familie Aue reiste nicht allein in ihrem Wagen, sondern dazu kamen noch zwei estnische Köchinnen mit einem Foxterrier und ein russischer Musiker mit Frau und Kind. Auch eine etwas unangenehme Reisegesellschaft stieg später noch ein, was Margarethe folgendermaßen beschreibt: „Später kamen noch zwei estnische Soldaten hinzu, was übel war, denn sie waren ganz verlaust. Das waren aber keine Kopfläuse, sondern Kleiderläuse, welche meine Mutter und mich als Beute wählten, und bald hatten wir rote Gürtel an unserem Körper. Wenn unser Zug lange an einer Station stand und die Männer den Wagen verließen, versuchten wir, unsere ‚Zwangsmieter* loszuwerden.“ (S.50)

Zugreise über Taschkent und Aralsk nach Moskau

Da der Zug lange in Taschkent stand, hatten die Aues Gelegenheit von den Pletzers und Frau Dr. Pistol Abschied zu nehmen. Von Frau Dr.Pistol erzählt Margarethe, dass sie mit ihrem neuen Mann, einem überzeugten Kommunisten, nach Teheran zog, „(…) wo sie Ärztin im Harem des Schahs wurde. Das war übrigens der Vater des jetzigen Schahs, ein einfacher Unteroffizier, der durch einen Coup den Thron erlang.“ (S.50)

Die Reise ging nur langsam voran, weil es so wenig Lokomotiven gab. Z.B. in Aralsk am Aralsee stand der Zug tagelang. Es gab ein großes Kirgisenlager in der Nähe der Station und die Knaben der Aues haben Gelegenheit zum Kamelreiten.

Viele Reisende kauften oder tauschten auch Schaffleisch ein, die Aues besorgten sich Salz, denn es mangelte in Russland an Salz.

Das Reisen bestand als aus ewigem Stehen und Abwarten und Max Aue versuchte, die Reise zu beschleunigen, indem er den Zugführer mit Waren aus Turkestan bestach. Daraufhin wurde er festgenommen, denn der Chef der Sicherheitspolizei hatte davon erfahren. „Nun hatten wir in unserem Transport einen jungen österreichischen Arzt, mit dem mein Mann im Lager zusammengearbeitet hatte. Der machte sich auf in die Tsch.K. (Sicherheitspolizei), unterhielt sich mit den Leuten und erzählte ihnen, er habe eine Apotheke mit verschiedenen Medizinen, die auch Spiritus und Wein enthalte, und er stehe gern zur Verfügung.“ (S.51), als aber die Beamten zum Wagen des Arztes kamen, um die versprochenen „Herrlichkeiten“ abzuholen, machte der Arzt die Freilassung Max Aues zur Bedingung und so kam der Vater zurück zu seiner Familie. Eine andere  – nicht ungefährliche – Art der Beschleunigung der Weiterfahrt durch temperamentvolle Ungarn beschreibt Margarethe noch: „ Als nun die ersehnte Lokomotive nach bewährtem Rezept zum Wasserturm fuhr, um ihren Kessel zu füllen, um dann in höchstem Tempo zu einem der auf den Gleisen stehenden Züge, aber nicht in Richtung Russland, sondern in Richtung Turkestan zu stoßen, setzten sich die Magyaren auf alle Gleise außer denen, die zu unserem Zuge führten, und erklärten, die Lokomotive könne nur über ihre Leichen fahren. Das half wirklich und wir fuhren weiter in Richtung Russland.“ (S.51) Immer mehr Hungernde waren an den Stationen zu beobachten, die nach Turkestan reisen wollten. An einem Bahnabhang beobachtete Margarethe Frauen und Kinder, die einander lausten. „Sie hatten ihre Dörfer verlassen, ihr Vieh geschlachtet, die Frauen hatten die Wolle versponnen und Kleider daraus gestrickt, die Kinder hatten Wolle auf bloßem Leibe und in dieser Wolle setzten sich die Kleiderläuse besonders fest.“ (S.51)

Wie schlimm der Hunger war, beschreibt Margarethe mit einer anderen Episode. Der Foxterrier ihrer Reisegefährten war gut gefüttert, da sie genug Vorräte hatten. „Als er sich nun draußen erging, übergab er sich. Flugs streckte ein Kind sein mageres Händchen nach diesem breiigen Etwas aus und steckte es in sein eigenes Mäulchen. Der Hunger war böse.“ (S.51)

Ein anderes Mal ging der Zug plötzlich ab und die Herren – unter ihnen Max Aue – schafften es nicht zurück in den eigenen Wagen, was den kleinen Fedja in höchste Aufregung versetzte. Zum Glück konnten sie auf den letzten Wagen aufspringen und kehrten bei der nächsten Station zu ihren Familien zurück, denn Durchgänge gab es bei den Wagen nicht.

Auch Überfälle auf die Züge waren an der Tagesordnung, aber die Aues hatten Glück und die sogenannten „Grünen“, die aus hungernden Bauern, desertierten Soldaten und anderen Räubern bestanden, überfielen ihren Zug nicht. Als der Zug schließlich an der Wolga ankam, begann es zu regnen und es stellte sich heraus, dass das Dach des Waggons nicht dicht war. Als die Reisenden in Rjasan ankamen, sollte der Wagen ausrangiert werden und alles raus in den Regen. „Wie hätten wir das durchführen können mit unserer bettlägerigen Babuschka? Mein Mann griff wieder zu dem leider unentbehrlichen Mittel der Bestechung. Die zuständigen Leute bekamen die Verheißung von Reis und Mehl, und dann waren sie es, die meinem Mann halfen, das Dach zu reparieren, und so fuhren wir in demselben Wagen weiter bis Moskau.“ (S-52)

Ankunft in Moskau und Weiterfahrt nach Narva und Reval

Die Reise von Kokand nach Moskau hatte über einen Monat, vom 11.August bis 13.September gedauert und nun stand den Aues noch eine zwölf Tage dauernde Reise von Moskau bis Narva bevor.

Als sie in Moskau ankamen, wurde der Wagen an einen steilen Abhang gerollt, den Margarethes Mutter nicht erklimmen konnte. So musste sie zunächst im Wagen gelassen werden, bevor es Max Aue gelang, dass die Bahnverwaltung den Waggon in die Nähe der Straße beförderte. „Von dort konnten wir zu zweit meine Mutter bis zur Straße geleiten und dann konnten wir sie per Droschke (Auto gab es nicht) zu der sehr lieben Schwiegermutter meiner Schwester im Zentrum der Stadt bringen, wo sie es sehr gut hatte. Der Arzt meinte, sie könnte nur noch einige Monate leben, aber sie hat dann in Reval noch fast vier Jahre gelebt.“ (S. 53) Die Aues selbst wohnten bei Margarethes Schwiegermutter und der jüngsten Schwägerin Berta in deren Dreizimmerwohnung. Auch andere Verwandte kamen noch hinzu, u.a. der jüngste Bruder von Max, um von Mutter und Schwester Abschied zu nehmen. „Meine Schwiegermutter war ein ganz besonderer Mensch, sie war immer gleichmäßig ruhig und freundlich, hat niemals etwas verlangt für ihre Person, auch von ihren Kindern nicht, wurde aber über alles verehrt und geliebt von ihnen.“ (S. 53)

Vor der Weiterfahrt hatte Max Aue noch viel zu erledigen. „Er musste Ausfuhr- erlaubnis für unsere Teppiche, die in einem sogenannten diplomatischen Kurier, d. h. einer versiegelten und gestempelten Kiste, nach Estland geschickt wurden, bekommen, ebenso für unsere Turkestaner Bilder (ohne Rahmen), ein paar Figuren, meine Noten usw.“ (S.53) Vor allem musste in den Waggon der Aues ein Öfchen, eine sogenannte Burschuika, eingebaut werden, denn es war nun schon Oktober und wurde kalt.

„Wir fuhren zuletzt: meine Schwiegermutter und Meta, sowie Jule Aue mit den drei Kindern hatten wir schon an den Zug begleitet, der sie nach Petersburg bringen sollte, von wo aus das Schiff nach Stettin ging.“ Jetzt fuhren auch Margarethe und Max Aue mit den Kindern und Margarethes Mutter los in Richtung Estland. Die Grenze ist in Jamburg und bei der gründlichen Grenzkontrolle wird den Aues das Öfchen weggenommen und der Mutter ein Spiegel und ein Medizinköfferchen. „Als wir uns am Abend Narva näherten, hielt der Zug auf offenem Felde, in der Dunkelheit, und wir erfuhren, dass wir Scharlach- und Diphteriekranke in unserem Zug hatten, und darum erst in die Quarantäne mussten, und zwar übers Feld, welches mit Glatteis bedeckt war.“ (S.53) Mit großen Leiterwagen wurde das Gepäck transportiert und es gelang Max Aue, auch seine Schwiegermutter oben auf dem Wagen zu befördern. Margarethe aber schlitterte mit den Kindern an der Hand, mit Waschschüssel und sauberer Wäsche über das Glatteis. „Als wir in die Fabrikhalle der Tuchmanufaktur, welche rein, warm und hell erleuchtet war, traten, hatte ich das Gefühl, wir wären im Himmelreich. Nun saßen wir und warteten, bis wir an der Reihe waren, in die Sauna zu gehen.“ (S.54) Für die Nacht erhielten die fünf Personen zwei eiserne Betten zum Schlafen. Die beiden Fabriken, eine Tuch- und eine Leinenmanufaktur gehörten Familie Peltzer, die mit Max Aue verwandt war, denn seine Mutter war eine geborene Peltzer. Als dieser nun den damaligen Direktor, Hans Peltzer, anrief, kam bald eine Equipage, die beide Mütter und die Kinder in das Krankenhaus der Leinenmanufaktur brachte. „Meine Mutter wurde zu Bett gebracht, die Kinder aber nahmen ihren Sack mit Bauklötzen hervor und nun wurde auf dem Fußboden Zug gespielt, stundenlang, mit allem Tuten und Blasen, was dazu gehört.“ (S.54) Max Aue telegraphierte nun nach Stockholm und seine Schwester Christine überwies den Aues einen Teil der Dollars, die für die Treibriemen in Amerika bezahlt worden waren.

Es gelang ihm auch, ein großes möbliertes Zimmer in der Nähe von Reval bei einer begüterten älteren Dame zu mieten, in das nun die vier Aues ziehen. Die Mutter vom Margarethe konnte in der Anstalt Seewald, die in einem Park direkt am Meer lag, der ein Geschenk des deutschen Adelsvereins gewesen war, untergebracht werden. „Oberarzt war Dr. Ernst von Kügelgen und einer der Hauptärzte war Dr. Leo von Kügelgen, ein sehr sympathischer Mann, der dann meine Mutter behandelte und den sie richtig liebhatte.“ (S.54) Margarethe betont noch, dass die Mutter ein sehr schönes Zimmer bekam und sich sehr wohlfühlte. Max Aue aber richtete ein Büro im Zentrum von Reval ein und begann zu arbeiten. Margarethe erklärt den Hintergrund der Firmengründung: „Die Grundlage, auf der er nun dieses Geschäft aufbaute, war folgende: Herr Hahr hatte in Kokand einen guten Freund gehabt, Herrn Meyerkort aus Bremen, welcher in Turkestan eine große Firma besaß, aber noch vor dem ersten Weltkriege nach Deutschland zurückging. Ale er erfuhr, dass sein Freund Percy Hahr aus Moskau nach Lettland, für welches er optiert hatte, zurückziehen wollte und außer ihm noch zwei andere Bekannte aus Turkestan, Hensel und Aue, da bekam er die Idee, in den selbständigen Randstaaten Firmen zu gründen, die sich organisieren und gleich vorstoßen sollten, wenn die Sowjetregierung gestürzt worden war.“ (S.59) Damals glaubten viele, dass das bald geschehen würde. Max Aue machte nun sein erstes großes Geschäft mit der Sowjethandelsdelegation in Estland mit Reis von Meyerkort in Bremen. Auch Familie Hahr zog mit ihren fünf Kindern von Moskau nach Riga. Max Aue überwies ihnen die Hälfte der Dollars, so dass sie eine Wohnung mieten und die Kinder einkleiden und einschulen konnten. Herr Hensel und Frau zogen jetzt ebenfalls aus Russland nach Reval. „Es wurde nun geplant, dass mein Mann als der Jüngste und Sprachenkundigste nach Finnland ziehen sollte und versuchen, dort eine entsprechende Firma unter dem Namen ‚Hahr, Hensel & Co.‘ zu gründen.“ (S.60) Aber zuvor verbrachte Familie Aue noch einen Sommer in Hapsal in einem möblierten Sommerhaus. Margarethes Mutter bekam eine Schlammbehandlung, die ihr gut tat, und die Kinder hatten nun Gesellschaft. „Im oberen Stock gab es ein nettes Zimmer, das wir einer meiner sehr lieben Moskauer Bekannten, Frl. Olga Luther zur Verfügung stellten. Ihr Bruder, der Advokat Alexander Luther in Moskau, war im Kriege in Prjemyscl an Typhus gestorben, seine Frau bald darauf an den Folgen einer Operation und Olga Luther nahm die beiden Waisen zu sich, ging nach Reval, wo sie Verwandte hatte, und ist ihnen eine treue Mutter gewesen.“ (S.59) Nun konnten alle noch in Hapsal einen schönen Sommer gemeinsam erleben, die Kinder lernten hier u.a. das Paddeln, das ihnen viel Spaß bereitete.

Max Aue zog im Herbst schon nach Helsinki, wo er ein Kontor und eine Wohnung mieten wollte. Margarethe aber musste wieder packen. „Das war nicht einfach, denn die estnische Hafenverwaltung verlangte, dass jedes Kolli eine Hülle besaß, Wachstuch oder Papier, auf der eine Nummer deutlich sichtbar gemalt war. Zum Glück hatte ich Hilfe von einem Deutschrussen aus Moskau, früherer Besitzer des Hotels Berlin.“ (S.59)

Von Estland nach Helsinki – die neue Heimat

Die Aues hatten sich wohlgefühlt in Estland und der Abschied fällt ihnen nicht leicht. „Wir nahmen mit Bedauern Abschied von dem sympathischen Ländchen mit seiner fleißigen, ehrlichen, sauberen und musikalischen Bevölkerung, welche in der kurzen Zeit ihrer politischen Befreiung ganz bedeutende Fortschritte machte. Wir empfanden ihr gegenüber Dankbarkeit für das freundliche Entgegenkommen und genossen das Gefühl der Freiheit.“ (S. 59)

Max Aue war es inzwischen gelungen, ein Kontor zu mieten in der Lönnrotsgatan, aber eine Wohnung zu finden war schwierig. Für den Anfang mietete er nun ein großes Zimmer bei einer deutschen Dame aus Dorpat und Margarethe konnte sich dann um die Wohnungssuche kümmern. Es war ein „Salon mit Rotholzmöbeln und Kristallkrone, aber sie wagte es, zwei Knaben zu nehmen. Ich habe Angst ausgestanden wegen Teppichen und Damastbezügen aber es ging glücklich ab.“ (S.60)

Nun musste Fedja eingeschult werden, er kam in die A-Klasse der Deutschen Schule, und Schurik kam in den deutschen Kindergarten. Schließlich fand sich eine Zweizimmerwohnung für die Aues, obwohl es schwieriger war, zu mieten als etwas zu kaufen. „Wir entschlossen uns, eine möblierte Zweizimmerwohnung mit Küche, ohne Badezimmer, in Brunnsparken neben der sogenannten Marmorvilla, in einem schönen Garten und mit einem riesigen Balkon zu mieten.“ (S.60) Für die Kinder war die Umgebung wunderbar, denn sie konnten im Park spielen. Beim Anmieten der Wohnung traf Margarethe auf einige Vorurteile: „Die Villa gehörte Direktor Kaarlo Kaira, der nachher Professor wurde, ein bekannter Spezialist für internationales Recht. Damals musste ich mich ihm persönlich vorstellen, bevor er sich entschloss, uns die Wohnung zu vermieten, denn wir kamen aus Russland und waren gewissermaßen suspekt. Wir waren aber Deutsche und damals, nach dem ersten Weltkrieg, war die Stimmung in Finnland sehr deutschfreundlich.“ (S. 60)

Die Situation der Deutschen Schule Anfang der 20er Jahre in Helsinki beschreibt Margarethe Aue genau: „Die Lokalitäten der Deutschen Schule waren ungeheuer primitiv. Die unteren Klassen logierten in einem einstöckigen Holzhause, Unionsgatan 10, die oberen Klassen, damals wohl Fünf, Sechs und Sieben, in einem einstöckigen Holzhause an der Ecke der Södra Magasinsgatan und des Södra Kajen. Dort gab es keinen Saal und wenn das Wetter gut war, konnten sich die Schüler auf dem Observatoriumsberge ergehen. Wenn die Pause zu Ende war, kam Mama Rein mit einer großen Glocke an die Straßenecke und läutete kräftig, um die Schüler zurückzurufen.“ (S.60)

Aber eine kurze Zeit nach Ankunft der Aues wurde ein neues, vierstöckiges Gebäude auf dem Grundstück des Deutschen Vereins errichtet und als auch dieses Gebäude zu klein wurde, musste noch eine Wohnung auf der Södra Magasinsgatan dazu gemietet werden, „das sogenannte ‚Schloss‘, denn es gab dort gewaltige Marmoröfen mit Spiegeln.“ (S.60) Die heutige Deutsche Schule an der Malminkatu wurde 1932/ 33 errichtet. Margarethe kommentiert:“ Die Deutsche Schule erreichte unter Rektor Krämer, der 15 Jahre lang in Helsingfors tätig war, ein hohes Niveau mit teils einheimischen, teils reichsdeutschen Lehrkräften.“ (S.61)

Vom weiteren Bildungsweg ihrer Söhne berichtet Margarethe, dass Fedja (Theodor) nach bestandenem Abitur an die finnische Handelshochschule ging und diese abgeschlossen hatte, als der Winterkrieg ausbrach. Er tritt später in die Fußstapfen des Vaters und übernimmt die Firma. Schura (Alexander) dagegen musste mehrfach sein Studium unterbrechen wegen der Kriege, er begann an der Åbo-Akademi und beendete es an der Technischen Hochschule in Helsinki mit dem Spezialfach Metallurgie.

Die Familie Aue ist sechsmal in Helsinki umgezogen, bevor sie 1956 endlich in die eigene Wohnung in Munkkiniemi/ Munksnäs einziehen konnte. „Bis dahin hatten wir aus Sparsamkeitsgründen immer Wohnung und Kontor zusammen gehabt“, betont Margarethe (S.61).

Auch die Firma hieß schon lange OY Max Aue AB, denn Herr Meyerkort hatte sich zurückgezogen, als er sah, dass die Sowjetunion gesiegt hatte. „Meinem Mann gelang es, die Firma Max Aue zu einer allgemein anerkannten und geachteten Firma zu entwickeln.“ (S.61) Als Nachfolger tritt sein Sohn Theodor später in die Firma ein. „Als er dank seinem hohen Alter die Arbeit aufgeben musste, konnte er sein Werk ruhig der Leitung seines Sohnes Theodor überlassen, der die Firma bedeutend ausgebaut und vergrößert hat.“ (S.61)

Im Familienleben ist der rege Kontakt mit den Verwandten in Stockholm bereichernd und eine Unterstützung. „Sehr bereichernd für unser Leben in Helsingfors war der Verkehr mit meiner Schwiegermutter und meinen Schwägerinnen in Stockholm, besonders mit den beiden Jüngsten, Christine und Meta, die beide meinen Mann überlebten. Wir waren öfters drüben und sie in Helsingfors. Auch meine Schwiegermutter war einen Sommer bei uns auf Degerö. Sie war glücklich, wenigstens einen ihrer fünf Söhne in der Nähe zu haben.“ (S.61)

Als in der Kriegszeit kaum Lebensmittel in Helsinki vorhanden sind, hilft die Familie in Stockholm. „Sie halfen nicht nur uns, sondern auch den Notleidenden im Deutschland der Nachkriegszeit. Auch wir halfen mit Paketen, aber besonders interessierte mein Mann sich für das Schicksal der Wolgadeutschen und die Deutsche Gemeinde unterstützte ihn bei dieser Hilfstätigkeit.“ (S.61)

Margarethe betont abschließend, wie viele Ehrenämter ihr Mann in der Deutschen Schule, Deutschen Bibliothek und Deutschen Gemeinde bekleidet habe. Hier muss hinzugefügt werden, dass auch Margarethe selbst z.B. im Diakoniebereich der Deutschen Gemeinde sehr aktiv war und im Vorstand der Deutschen Schule war. Max Aue starb 1966 und Margarethe Aue 1983 und Margarethes eigene Worte können sicher auf das Leben beider Aues bezogen werden: „(…) ein Leben, das sehr bewegt und auch nicht leicht gewesen war, aber reich an Inhalt, an Initiative, an geistigen Interessen, an Güte und ständiger Hilfsbereitschaft.“ (S.62)

Luise Liefländer-Leskinen

Dr. phil. Luise Liefländer- Leskinen ist Germanistin mit langjähriger Tätigkeit als Dozentin für Deutsch an den finnischen Universitäten Oulu, Turku und Ost-Finnland (Joensuu und Savonlinna). Seit 2014 ist sie Vorsitzende des Verbandes der finnisch-deutschen Vereine in Finnland.

Margarethe Aue – Lebenserinnerungen, ed. Luise Liefländer Leskinen, ist in der Veröffentlichungsreihe der Aue-Stiftung im Jahr 2023 erschienen. Das Buch ist hier zu kaufen und hier als pdf-Datei zu lesen.