Rede von Minna Ålander anlässlich des Kulturabendessens des Beirats der Aue-Stiftung am 16.8.2023

Deutsch-finnische Beziehungen – gegenseitige Enttäuschungen?

Sehr geehrte Damen und Herren, Ihre Exzellenzen,

Vielen Dank für die Einladung, heute Abend hier die jährliche Festrede halten zu dürfen. Nach 10 Jahren in Deutschland und ein Jahr nach meiner Rückkehr nach Finnland, freue ich mich, meine Eindrücke über den Stand der deutsch-finnischen Beziehungen zu teilen.

Zunächst ein paar Worte zu meiner Person: eigentlich hatte ich nie vor, eine Deutschland-Expertin zu werden. Eigentlich war es so herum, dass das Thema – Deutschland – mich gewählt hat. Die Verbindung ist so entstanden, dass ich in der Schule lange Deutsch gelernt hatte, aber beherrschte die Sprache bei weitem nicht so gut wie Englisch, weshalb ich zuerst ein Schüleraustauschjahr in Deutschland verbracht habe und danach fürs Studium dorthin zurückgekehrt bin. Wie das so ist, sind auf einmal 10 Jahre vergangen und ich war immer noch in Deutschland. Aber in meinem Studium war deutsche Politik eigentlich nicht das Hauptthema und ich habe später auch nicht an deutscher Außenpolitik in Berlin gearbeitet, Deutschland war nun mal der Ort, wo ich gelebt, andere Dinge studiert und an anderen Dingen gearbeitet habe. Aber dann ist Deutschland als Thema mir nach Finnland gefolgt und jetzt werde ich es nicht mehr los.

Nach meiner Rückkehr nach Finnland hat sich meine Rolle so etabliert, dass ich in Finnland Deutschland zu erklären versuche und umgekehrt deutschen Medien gegenüber, was in Finnland los ist. Und es gibt momentan viel Erklärungsbedarf: vor und nach Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine verbreitete sich in Finnland eine starke Enttäuschung mit Deutschland. Deutschland gilt als Finnlands wichtigster gleichgesinnter großer Partner in der EU und ist auch seit vielen Jahren einer von Finnlands wichtigster Handelspartner, wenn nicht sogar der wichtigste. Deshalb war der Schock in Finnland so groß, als Deutschland anfänglich so zögerlich auf Russlands Anfall reagierte und gar nicht Finnlands Bedrohungswahrnehmung zu teilen oder überhaupt zu verstehen schien. Wie konnte Deutschland in einer so wichtigen Situation so ungleichgesinnt wirken? Und wie war es möglich, dass man in Deutschland Russland gar nicht als Bedrohung erkannt hatte, und nicht nur nach der Krim-Annexion die eigene Energieabhängigkeit erhöht, aber gleichzeitig die Verteidigungsfähigkeit heruntergefahren hatte? Viele Finn*innen haben sich gefragt, ob Deutschland eigentlich überhaupt so gleichgesinnt ist, wie man immer angenommen hat.

Die Enttäuschung ist aber in manchen Hinsichten gegenseitig gewesen. In Deutschland hat man die neue finnische Regierung über den Sommer mit großer Verwunderung beobachtet. Die vielen Rassismusskandale und gar Neonazi-Verbindungen eines finnischen Ministers haben in Deutschland die Frage aufgeworfen: was ist in Finnland los, wie konnten die finnischen Wähler*innen Sanna Marin als Premierministerin abwählen und eine solche neue Regierung präferieren? Beispielsweise bezeichnete die Süddeutsche Zeitung die neue finnische Regierung in einer Schlagzeile als „Gruselkabinett“ bezeichnet. Dies warf die Frage auf: Sind die Finn*innen letztendlich so gleichgesinnt wie immer gedacht – schließlich ist solch offene Rechtsradikalität ein großes Tabu in Deutschland. Der Kontrast hätte kaum grösser sein können: Über Sanna Marins „über-progressive“ Regierung, die von fünf Frauen, wovon vier unter 40 waren, geführt wurde, war in Deutschland viel und mit großer Bewunderung berichtet worden. Nun stellte sich die Frage, ob Finnland tatsächlich ein politisch verlässlicher Partner ist – die Frage kam sogar bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Kanzler Olaf Scholz und Premierminister Petteri Orpo bei dessen Staatsbesuch in Berlin auf.

Sind Finnland und Deutschland denn nun gleichgesinnt oder nicht? Die Frage würde ich mit einem meiner deutschen Lieblingswörter beantworten: Jain.

Eigentlich hat sich in letzter Zeit nichts Wesentliches verändert. Die Unterschiede zwischen Finnland und Deutschland waren schon immer da, nur vielleicht nicht so deutlich wie jetzt. Man hat gewissermaßen angenommen, dass man gleichgesinnt ist, ohne dem anderen grössere Aufmerksamkeit zu geben. In Finnland war das Deutschland-Bild lange überpositiv in der Hinsicht, dass Berichterstattung über Deutschland meist sehr positiv und bewundernd war. In Finnland tendiert man dazu, zu denken, dass das Gras doch sicherlich immer irgendwo anders grüner ist – ganz bestimmt so in Deutschland. Deshalb war dann aber auch die Enttäuschung so besonders gravierend letztes Jahr.

In Deutschland weiß man generell sehr wenig über Finnland, die meisten Menschen haben aber einen zwar vagen, aber positiven Eindruck von Finnland. Finnland wird allerdings häufig mit Schweden verwechselt, welches in Deutschland viel bekannter ist. Grob genommen gibt es zwei Typen von Deutschen: die, die nach Barcelona [ausgesprochen: Barzellona] in Urlaub fahren, und die, die ein Schwedenhaus bauen wollen – es sagt einiges aus, dass „mökki“ auf Deutsch eben „Schwedenhaus“ heißt. Diejenigen Deutschen, die sich für Finnland interessieren, sind quasi eine Unterkategorie der nach Norden (also Schweden) orientierten Deutschen.

Finnlands NATO-Beitrittsprozess brachte Finnland ungewohnte Aufmerksamkeit in deutschen Medien. Die plötzliche Kehrtwende – ja, eine richtige Zeitenwende – in Finnland hat viele in Deutschland überrascht. Als Folge versuchte ich vielen deutschen Medien gegenüber zu erklären, wie es kam, dass Finnland auf einmal die lang bewahrte Neutralität (die finnische rhetorische Gymnastik der „Bündnisfreiheit“ hat nämlich die meisten nicht erreicht) über Nacht aufgeben wollte.

Ein grosser Unterschied zwischen Finnland und Deutschland am Anfang des russischen Anfallkrieges war die sich in Deutschland sofort einsetzende Angst vor dem Atomkrieg. Auch ich wurde oft gefragt, bevor Finnland den NATO-Beitrittsantrag gestellt hat, ob das nun die rote Linie für Putin sein könnte, und er als nächstes den großen roten Knopf drücken wird. So absurd wie es für Finn*innen klingt, war es nicht so einfach, zu erklären, warum das unwahrscheinlich der Fall sein wird. Ein entscheidender Moment war jedoch das Meseberg-Treffen im Juni 2022, wo Sanna Marin und ihre schwedische Amtskollegin Magdalena Andersson mit eingeladen waren. Das Treffen lief offenbar sehr gut, in der gemeinsamen Pressekonferenz hat Kanzler Scholz ungewöhnlich viel gelächelt und die beiden nordischen Premierministerinnen als seine „guten Freundinnen“ bezeichnet. Danach war in Deutschland von Atomkrieg keine Rede mehr in Verbindung mit Finnlands NATO-Mitgliedschaft und obwohl die Zeitenwende ansonsten eher langsam voranschreitet, hat Deutschland es mit der Ratifizierung des finnischen und schwedischen NATO-Beitritts unter die schnellsten 10 Länder geschafft.

Wie steht es inzwischen mit der deutschen Zeitenwende? Im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich sind die Herausforderungen gewaltig und die Kursänderung gestaltet sich dementsprechend langsam. Vieles lässt sich mit Geld lösen – und Geld hat Deutschland – aber die Bundeswehr muss strukturell reformiert werden.

Auch in anderen Bereichen sind neue Impulse nötig. Die ehemalige finnische Europa-Korrespondentin von Yle, Suvi Turtiainen, hat die Veränderungen in Deutschland in ihrem Abschieds-Interview nach 8 Jahren in Berlin sehr zutreffend beschrieben: Deutschland wird zum normalen Land. Was sie damit meinte ist, dass es den Deutschen klar geworden ist, dass der deutsche Standard inzwischen nicht mehr unbedingt der höchste ist, und Deutschland in vielen Bereichen Aufholbedarf im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hat. Das ist das Erbe von Merkel: Dank der „schwarzeren Null“ – der strengen Fiskalpolitik – und Investitionsstau wurde in zukunftsrelevante Bereiche wie Digitalisierung und Bildung, öffentliche Verkehrsinfrastruktur, und die Energiewende nicht ausreichend investiert. Das Internet hat Merkel bekanntermaßen als „Neuland“ bezeichnet. Die deutschen Züge waren vor 20 Jahren die modernsten in Europa, wurden aber 20 Jahre lang nicht mehr modernisiert. Die Energiewende ist wiederum bei der Brückentechnologie Erdgas stecken geblieben. In Deutschland setzt man aus historischen Gründen auf politische Stabilität und Kontinuität, und Merkel hat beides angeboten. Die deutschen Wähler*innen wollten, dass alles so bleibt, wie es ist. Das Ergebnis war jedoch, dass während in Deutschland alles gleichblieb, ist der Rest von Europa um Deutschland herum fortgeschritten – und Deutschland dabei zurückgeblieben.

Die Herausforderungen, vor denen Deutschland sich heute findet, sind enorm. Ich beneide die Bundesregierung absolut nicht: die Ampel kam mit einer rein innenpolitischen Reformagenda an die Macht und hatte vieles vor. Aber kaum im Amt, hat Russland die Ukraine überfallen – darauf war die neue Bundesregierung überhaupt nicht vorbereitet. Dennoch habe ich Vertrauen darauf, dass Deutschland diese Herausforderung meistern wird. Die Bundesregierung hat mit dem „neuen Deutschlandtempo“, dem rekordschnellen Aufbau von LNG-Infrastruktur, gezeigt, dass Deutschland sich auch schnell an neue Umstände anpassen kann, wenn es sein muss. Auch der befürchtete europaweite Wirtschaftskollaps als Folge der deutschen Energieabhängigkeit von Russland ist nicht eingetreten, zum Teil dank der enormen, €200 Mrd. schweren Energiesubventionen, bekannt als „Doppelwumms“. Wo ein (politischer) Wille ist, ist also auch ein (finanzieller) Weg.

Minna Ålander